23. Dezember 2011

461 MILLIONEN GESPROCHENE WÖRTER PRO LEBEN

Im Fernsehen habe ich in dieser Woche eine Sendung gesehen, in der zu allen Aspekten unseres bundesrepublikanischen Lebens die dazu gehörige Statistik geliefert wurde. So weiß ich jetzt, dass wir Deutsche im Laufe unseres Lebens durchschnittlich 461 Millionen Wörter sprechen, macht pro Tag durchschnittlich 16.000.

Kommt Ihnen das viel oder im Gegenteil eher wenig? O.k., das ist der Durchschnitt. Auf jeden schweigsamen Zeitgenossen kommt also einer, der besonders gern redet. Und das Schweigen in den vier Trappistenklöstern Deutschlands wird sicherlich mehr als deutlich ausgeglichen durch die vielen Rhetorikstudent*innen an Universitäten wie beispielsweise der Uni Tübingen, die jedes Jahr eine Rede zur „Rede des Jahres“ auszeichnet.

Dieses Jahr erhielt Jean Zieglers „Aufstand des Gewissens“ diese Auszeichnung. Vielleicht haben Sie den „Skandal“ verfolgt: der Soziologe und Globalisierungskritiker Ziegler wollte diese Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten – wäre er nicht wieder ausgeladen worden.

Die Rede wurde dadurch natürlich nur noch bekannter, unter anderem deshalb, weil er sie selbst auf You Tube gestellt hatte. Sie beginnt mit dem Satz „Alle zehn Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren“ und ist somit alles andere als eine dieser Wohlfühlreden mit einem kleinen Schuss Nachdenklichkeit, die normalerweise zu solchen Anlässen gesprochen werden.

Ziegler macht Großkonzerne und andere gewissenlose Akteure des Finanzkapitalismus für die weltweite Hungersnot verantwortlich. Als einen Ausweg sieht er die „bewegende Macht der Kunst“, die auch „die dickste Betondecke des Egoismus“ durchdringe. Lange spricht er über Brechts Mutter Courage als Aufstand des Gewissens.

In der christlichen Tradition ist Weihnachten das Fest einer Geburt. Und auch übermorgen, wenn dieses Fest wieder gefeiert wird, wird alle zehn Sekunden ein Kind sterben und werden viele Reden gehalten werden. Einige davon Wohlfühlreden, einige werden deutlichere Worte finden und Verbindungen herstellen zwischen goldenem Lichterglanz und dunkler Hungersnot. Und jedes Jahr aufs Neue sind wir aufgerufen, unsere individuelle Position auf der Skala zwischen diesen beiden Polen zu finden.

Ich wünsche Ihnen und mir selbst, dass wir diese Position finden und entsprechend handeln. Auf diese Weise ist die WeihnachtsGESCHICHTE auch ein Blick in unsere Realität.

Brecht hat gesagt: „Nur ein Blick in die Wirklichkeit kann die Wirklichkeit ändern“. Das stammt nicht aus Mutter Courage, sondern aus seinem Drama Die Maßnahme. Die Wirklichkeit lässt sich manchmal besser erkennen, wenn man schweigt. Wieviele Wörter unserer lebenslänglichen 461 Millionen werden wohl auf diese Weihnachtstage fallen? Wir haben es selbst in der Hand.

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