17. September 2016

APPOLLONISCHE EFFEKTE

romantherapieGestern bin ich romantherapiert worden! In The School Of Life Berlin, unter Anleitung von Traudl Bünger, eine der drei Autorinnen des Buches Romantherapie.

The Novel Cure – so der Originaltitel – listet Romane, die bei emotionalen Symptomen wie Einsamkeit oder Liebeskummer, aber auch bei körperlichen Beschwerden wie Bluthochdruck oder Zahnweh auf literarische Weise heilen.

Dass Lesen heilsam sein kann, ist ein ebenso tröstlicher wie elektrisierender Gedanke. Neu ist er natürlich nicht.

So war bereits Apollon sowohl Gott der Dichtung als auch der Heilung und entsprechend Bruder im Geiste mit Therapeuten wie Viktor E. Frankl oder Bruno Bettelheim mit seinem Klassiker ’Kinder brauchen Bücher’ (gilt auch für Erwachsene).

Wie erfolgreich Bibliotherapie ist, wird unter anderem im Strafvollzug sichtbar. In einem brasilianischen Hochsicherheitsgefängnis gibt es beispielsweise die Initiative ’Haftverkürzung durch Lesen’, bei dem jedes gelesene (und sicherlich auch diskutierte) Buch zu vier Tagen Hafterlass führt. Oder im Projekt ’Dresdner Bücherkanon“ der dortigen Jugendgerichtshilfe, in welchem jugendliche StraftäterInnen statt zu Sozialstunden zum Lesen ’verurteilt’ werden, vier bis sechs Wochen Zeit für das Lesen eines zur Tat passenden Buches bekommen und anschließend handschriftlich Fragen dazu beantworten.

Und in England gibt es sogar seit einigen Jahren Literatur auf Rezept. Dort kann man sich von ÄrztInnen Romane gegen leichte Depressionen verschreiben lassen und das Rezept dann in einer Bibliothek einlösen.

Davon berichtet auch die Literaturwissenschaftlerin Andrea Gerk, die in ihrem Buch Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung von Literatur von Placeboeffekten, Spiegelneuronen und Solidaritätseffekten spricht, und die in einem Selbstversuch einer Londoner Bibliotherapeutin per Skype aus ihrem Leben erzählt hat:

„Sie wollte sehr genau meine Lesevorlieben wissen und hat mir dann fünf Romane auf Rezept verschrieben. Mit kleinen Fünf-Satz-Anweisungen, warum sie mir genau diese Bücher empfiehlt.“

Faszinierend! Dann aber denke ich: eigentlich bekomme ich doch genau das bei einer guten Buchhändlerin, von der ich mich beraten lasse, oder? Vorausgesetzt natürlich, ich vertraue ihr sehr Persönliches aus meinem Leben an.

Aber wann habe ich das das letzte Mal getan? Ist schon eine ganze Weile her. Ich gehöre nämlich eher zur Kategorie Meine-ideale-Lektüre-will-ich-am-liebsten-selbst-finden.

Schade eigentlich. Und gerade ist mir der Satz eingefallen, den meine Tante vor ewigen Zeiten in mein Poesiealbum geschrieben hat: „Das heilende Wort kannst du dir nicht selber sagen.“

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