BESCHÄMT
Vor kurzem hat mein Computer seinen Geist aufgegeben. Dabei ist eine Geschichte verloren gegangen, an der ich gerade schreibe. Rund 20 Seiten waren einfach weg und ich hatte das Gefühl, dass ich nie wieder dieselben stimmigen Worte und Formulierungen würde finden können. Falls Sie selbst schreiben, ist Ihnen dieses sehr frustrierende Gefühl vertraut.
Vor zwei Tagen war der chinesische Autor Liao Yiwu, der seit drei Wochen in Berlin lebt, zu Gast im ZDF Morgenmagazin. In China musste er seinem weltweiten Publikationsverbot zustimmen. Nun wurde sein Manuskript, das er außer Landes schmuggeln konnte, in Deutschland unter dem Titel „Für ein Lied und hundert Lieder“ publiziert. Dieser „Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen“ wird bereits mit Solschenizyns Archipel Gulak verglichen. Yiwu, ehemals unpolitischer Lyriker, wie er selbst sagt, wurde erst durch das Tian’anmen-Massaker von 1989 wachgerüttelt, über das er ein Gedicht schrieb, das ihn vier Jahre ins Gefängnis brachte.
Anschließend fühlte er sich verpflichtet, über die brutale Realität seiner Inhaftierung zu schreiben. Zwei Mal stürmten Sicherheitsbeamte seine Wohnung und beschlagnahmten das fast fertig gestellte Manuskript. Insgesamt dreimal also hat Yiwu diese 600 Seiten geschrieben.
Ich denke an meine kleine Geschichte und bin beschämt.
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