05. April 2012

BORED BY POLYMERE SPEECHES

Vor zwei Tagen hatte ich einen Termin an der Evangelischen Akademie Meissen. Die Akademie zeichnet sich nicht nur durch ein interessantes inhaltliches Programm aus, sondern auch durch ihre attraktive Klosterarchitektur und -atmosphäre.

Als ich gerade im Klosterhof die Sonne genieße, ist es rings um mich herum ganz still. Die Teilnehmer*innen einer Tagung des Leibniz-Instituts für Polymerforschung waren wieder zu ihren Vorträgen verschwunden und so fällt mir ein Mann um die 60 auf, der in professioneller Joggingmontur die Akademie verlässt, um 20 Min. später zurückzukommen und sich mit einer kleinen Flasche Wasser, schwitzend und schwer atmend ebenfalls in die Sonne zu setzen.

Wir kommen ins Gespräch und es stellt sich heraus, dass er Amerikaner ist, ebenfalls Tagungsteilnehmer, aber „bored by the polymer speeches.“ O.k., er sei „easily bored“ und „maybe I’m gonna miss something important“, aber man müsse sich entscheiden und „running is more important!“

Wir unterhalten uns schließlich über „important literature“ und er erzählt, dass Michael Ondaatje einer seiner Lieblingsautoren sei. Abgesehen davon, dass er somit indirekt deutlich macht, dass er seine eigene Lieblingslektüre selbstbewusst mit „wichtiger Literatur“ gleichsetzt, ist es schön, ihn von Ondaatje schwärmen zu hören. Das beste Buch von ihm sei „in the skin of the lion“. Als ich mir den Titel notiere, steht er ganz automatisch auf und liest meine Notiz. „Right!“

In der Haut des Löwen ist 1990 auf Deutsch erschienen, also drei Jahre vor dem Englischen Patienten, seinem wohl berühmtesten Roman. Tatsächlich hängen beide Romane eng zusammen. Figuren tauchen wieder auf. Der Dieb Caravaggio sowie Patrick Lewis, der Vater von Krankenschwester Hana, die den ’englischen Patienten’ in der toskanischen Villa pflegt.

Ich denke an Ondaatjes besondere Art, seine Geschichten zu erzählen: sie „kleinteilig“ in eine ungeheure Vielzahl einzelner Szenen, Bilder und Absätze zu zerlegen und in der Zeit ständig vor- und zurück zu springen. Literarische Snapshots sozusagen. Eine Methode, die im Übrigen so filmisch ist, dass wiederum die Verfilmung des „englischen Patienten“ den umgekehrten Weg gehen musste und längere Erzählstränge entwickelt hat.

Als der Polymerforscher schließlich den letzten Schluck aus seiner Wasserflasche trinkt, sich verabschiedet und im Gebäude verschwindet, denke ich: eine schöne Augenblicks-Begegnung war das. Ganz nach Ondaatjes Geschmack…

So wünsche ich Ihnen für die Ostertage ebenfalls schöne kurze Begegnungen: oval wie ein Ei, in sich geschlossen und mit einer überraschenden Füllung, wenn Sie hineinbeißen!

(Außer natürlich: etwas anderes ist „more important!“)

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