03. August 2021

DAS EINFINGERSYSTEM

Vorgestern habe ich in ttt Titel Thesen Temperamente einen Beitrag über Zeruya Shalev gesehen, die über ihren neuen Roman „Schicksal“ gesprochen hat. 

Shalev, die in Deutschland vor rund 20 Jahren mit „Liebesleben“ bekannt geworden ist, erzählt, dass sie sechs Jahre an diesem Roman gearbeitet habe, zum Teil bis zu 14 Stunden am Tag.

„Jedes Buch hat seine Forderungen“, sagt sie, „aber keines hat mich so gefordert wie dieses. Ich hatte oft das Gefühl, ich wäre seine Bedienstete, müsste tun, was es mir sagt. Das Buch hat mich lange wirklich beherrscht, ich musste es erst verstehen.“

Dies liegt vor allem am besonders engen autobiografischen Hintergrund. Zeruya alias Atara versucht, die Geschichte ihres verstorbenen Vaters zu rekonstruieren, eine Art „literarische Archäologie familiärer Lügen, Geheimnisse und Gewalttaten“, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. 

Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber wenn ich es tun werde, werde ich ganz sicher immer wieder auch an etwas ganz anderes denken, das Shalev erzählt hat, nämlich dass sie all ihre Romane mit EINEM Finger schreibt. Diese Profi-Autorin schreibt im Einfingersystem? Ich kann es kaum glauben, aber sie hat es uns im Beitrag gezeigt (siehe Foto). 

Dann habe ich recherchiert und weiß jetzt, dass neue Studien belegen, dass es letztlich keine relevanten Unterschiede in der Schreibgeschwindigkeit zwischen Zehnfingersystem, Sechsfingersystem (was wohl von sehr vielen Menschen angewendet wird) und dem Einfingersystem gibt. Entscheidend ist vielmehr, welches System man sich im Laufe der Jahre angeeignet hat, sei dies methodisch oder aber autodidaktisch intuitiv. 

Das Zehnfingersystem kennen wir als so genanntes Blindschreiben (weil man den Blick nicht auf die  Tastatur, sondern auf den Bildschirm richtet), während das Einfingersystem umgangssprachlich-karikierend Adlersystem genannt wird. Und plötzlich kommt es mir symbolisch absolut einleuchtend vor, dass Shalev nur einen einzigen Finger benutzt. Sie möchte ihre Romane nicht BLIND schreiben, sie möchte stattdessen mit Adleraugen alles in den Blick nehmen. Kein oberflächlicher Blindflug durch Themen, sondern ein Kreisen und gezieltes Stechen, auch wenn es schmerzt.

Und bei ihrem aktuellen Roman war dies offensichtlich „Schicksal“ im doppelten Sinn. 

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