DIE STRATEGIE DES UMKREISENS
Morgen ist im Theater Freiburg Premiere von Elfriede Jelineks Theatertext ’Rechnitz (Der Würgeengel)’. Das Besondere: Regisseur Marcus Lobbes bringt das gesamte Textkonvolut von Jelinek auf die Bühne und trifft nicht – wie sonst üblich – eine Auswahl aus den so genannten ’Textflächen’, die ohne Rollenzuweisungen sind und die Jelinek als Angebote fürs Theater ansieht. So wird jede Inszenierung zu einem eigenen Stück und das Thema „Texttreue auf der Bühne“ erhält eine ganz besondere Interpretation.
Lobbes Variation dauert rund viereinhalb Stunden, aber ihm gehe es nicht um Rekorde, sagt er, sondern um die Erfahrung, „was so ein Text, der sich ums Erinnern, Vergessen und Verdrängen dreht, mit uns macht, wenn ein Material nicht enden will“ beim Versuch, das Unsagbare in Worte zu fassen und das Ungeheuerliche zu umkreisen, ohne jemals sein Zentrum zu erreichen.
Diese strategische Vorgehensweise des Umkreisens halte ich auch für bestimmte Schreibphasen – speziell im autobiografischen Kontext – als außerordentlich wertvoll. Doch wie schwierig ist es, sich diese literarische Strategie zu erlauben und sie über einen längeren Zeitraum auszuhalten. Schnell brüllt eine zensierende Stimme ins rechte Ohr: „Nu komm mal endlich auf den Punkt!“ Kaum hörbar hingegen die Stimme, die uns ins linke Ohr hinein versichert: „Umkreise weiter und weiter!“
Ich wünsche Ihnen, dass beide Stimmen gleichlaut sind und Sie ein gutes Gespür dafür haben, wann Sie welcher Stimme folgen.
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