07. März 2015

FLANIEREN UND PASSIEREN

flanierenIm Rahmen des 100 Grad Festivals in den Sophiensälen habe ich an einer speziellen Performance der Écoleflâneurs teilgenommen. Ausgestattet mit einem pink angemalten Spazierstock bin ich mit einem der drei Performer schweigend durch die Straßen flaniert. Nach einer halben Stunde hat er sich von mir verabschiedet. Einfach so. Ein schönes, stilles Erlebnis. Gemeinsame Zeit mit einem Fremden, ohne mit ihm zu sprechen.

Das Thema Flanieren beschäftigt mich seit langem. Als Möglichkeit der Entschleunigung, als Wahrnehmungsschulung, als Mittel zur Selbstbeobachtung. Interessant finde ich unter anderem, dass der Flaneur als solcher eine typisch männliche Figur ist. Man sieht ihn vor sich, wie er schlendernd und beobachtend durch die Großstadtstraßen des 19. Jahrhunderts zieht, leicht dandyhaft mit Hut und Spazierstock ausgestattet.

Was ist mit der Flaneurin als mögliches weibliches Äquivalent? Die gibt es offiziell gar nicht. Und sie taucht auch nicht automatisch vor dem inneren Auge auf. Wen es stattdessen gibt: die so genannte Passante, die Spaziergängerin, die Vorbeiziehende. Und an wem zieht sie vorbei? Am männlichen Blick. Beispielsweise von Marcel Proust beschrieben, als Figur, der es im Idealfall gelingt, die besitzergreifende Perspektive auf sie zu ignorieren. So gesehen ist die männliche Natur des Flanierens also aktiv und beobachtend, während die weibliche Natur der Passierens passiv und beobachtet ist.

Kaum zu glauben: schon wieder bin ich beim Thema der weiblichen Eroberung des häuslichen und öffentliche Raums gelandet (siehe auch mein Blogbeitrag von letzter Woche). Leider ist die  unbeobachtete Selbstverständlichkeit des ziellosen Schlenderns in der Öffentlichkeit, ohne selbst zum beobachteten Subjekt zu werden, auch heute noch alles andere als selbstverständlich. (Davon kann ich ein Lied singen.)

Die Ècoleflâneurs zeigte in ihrem Trainingsraum, in welchem man vorab das flanierende Gehen trainieren konnte, übrigens Plakate zum Thema. Auf einem waren Assoziationen des ehemaligen Performance-Paars Marina Abramovic und Ulay zu lesen:

Kein Üben

Kein voraussehbares Ende

Keine Wiederholung

große Verletzlichkeit

dem Zufall ausgesetzt sein

Auf einem anderen Plakat waren Gedanken der Kulturhistorikerin Rebecca Solnit gedruckt, die über das bewusste Gehen sagt, dass es uns die Freiheit gibt, zu denken, ohne uns völlig in unseren Gedanken zu verlieren. Dies mache das Gehen so „wertvoll, vieldeutig und unendlich fruchtbar: es ist sowohl Mittel als auch Zweck, Reise und Ziel.“

Gehen wir also. Setzen wir uns dem Zufall aus. Und machen uns verletzlich. Aber gehen wir.

Auch morgen am Internationalen Frauentag. Unabhängig davon, ob wir Mann oder Frau sind.

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