10. Juni 2018

Ich walkte im Walde so für mich hin

Ich liebe es, morgens im nahegelegenen Fritz-Schloss-Park ein, zwei Sportrunden zu drehen. Es gibt dort einen kleinen Parcours mit allen möglichen Geräten und mit einem Trampolin, das in den Erdboden eingelassen ist und auf dem ich seltsamerweise noch nie einen Erwachsener habe hüpfen sehen (von mir selbst mal abgesehen).

Sonntags mache ich allerdings manchmal blau. Aber nicht heute. Glücklicherweise. Sonst wären mir nicht all die kleinen Wunder begegnet, die ich gefunden habe, obwohl mir der Sinn war, nichts zu suchen.

Es fing an mit einer Taubenfeder, die mir aus dem Himmel direkt vor die Füße fiel. Dann kam der Saxophonspieler, der an der ersten Parkbiegung stand und mit geschlossenen Augen improvisierte. Als nächstes ein wolfsartig aussehender Hund, der seine Leine hinter sich herschleifte und ein Stück schweigend mit mir lief, um dann in den Wald abzubiegen. Und dann kam Goethe.

Er begegnete mir in Form eines Taschenbuchs, aus dem ein Mann sich selbst vorlas und alles in das Mikrophon seines Handys sprach. Er saß etwas erhöht auf einer Steintreppe, so dass ich beim Vorbeilaufen zumindest den Namen Goethe auf dem Cover lesen konnte.

War das ein Schauspieler, der versuchte, einen Text auswendig zu lernen? Oder vielleicht ein Goethe-Kenner, der seiner Frau ein symbolisches Liebesgedicht seines Idols als Sprachnachricht schicken wollte?

Natürlich denke ich an das berühmte Gedicht „Gefunden“, das Goethe seiner Frau Christiane Vulpius anlässlich des 25. Jahrestags ihrer ersten Begegnung im Park an der Ilm gewidmet hat.

Ich ging im Walde 
so für mich hin.

Und nichts zu suchen,
 das war mein Sinn.

Na, das passte doch! Und wer weiß, vielleicht hat dieser Mann, den Sie im Übrigen hier auf dem verschwommenen Foto sehen, das ich im Laufen während der zweiten Runde aufgenommen habe – mittlerweile saß er nicht mehr, sondern balancierte während des Lesens stattdessen auf einer kleinen Mauer, das Handy verdeckt in seiner rechten Hand. Wer weiß also, ob dieser Mann womöglich vor 25 Jahren hier im Fritz-Schloss-Park (statt im Park an der Ilm) ebenfalls die Liebe seines Lebens kennengelernt hat.

Ein schöner Gedanke, auch wenn er mehr als unwahrscheinlich ist. Das denken Sie doch jetzt, oder? Aber ich sage Ihnen: heute morgen schien alles möglich zu sein.

Das schönste kleine Wunder kommt nämlich noch: Als ich in die letzte lange Kurve einbiege, sehe ich ein stückweit vor mir zum allerersten Mal eine alte Türkin hier auf dem Trainingsparcours. Sie trägt traditionelle Kleidung – ein schwarzes Kopftuch und einen fast bodenlangen, zu groß wirkenden schwarzen Mantel mit Schulterpolstern – und läuft mit kleinen schnellen Schritten und rudernden Armbewegungen. Sie trägt keine Sportschuhe, sondern Hausschuhe. Und sie ist allein unterwegs.

Diese Frau zu sehen, hat mich berührt und war das größte kleine Sonntagswunder für mich.

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