IMMER WIEDER ICH
lautete der Titel der Autobiografie Werkstatt in der Bundesakademie Wolfenbüttel, von der ich gestern nach Berlin zurückgekehrt bin. Rainer Moritz, der das Hamburger Literaturhaus leitet, hat diese Werkstatt durchgeführt. Einfach „nur“ Teilnehmerin zu sein, ist ein seltenes Vergnügen für mich und verdient hier ein paar genussvolle Ausrufezeichen, obwohl man mit Ausrufezeichen in Texten ja vorsichtig sein soll, außer man heißt Florence Hazrat und hat vor kurzem eine rebellische Geschichte über dieses Pathossymbol veröffentlicht!!! (Ein Literaturtipp aus dem Seminar.)
Auf der Hinfahrt bin ich im ICE mit einem jungen Laptop Mann ins Gespräch gekommen, der neben mir saß und unermüdlich einen riesigen Stapel Visitenkarten durchgesehen hat. Urplötzlich hat er mich gefragt, warum ich diese „wilden Notizen“ in meinem Buch machen würde – und hat dabei auf Annie Ernaux’s autobiografischen Roman „Die Scham“ gedeutet, den ich beim Lesen mit handschriftlichen Notizen, Pfeilen, Unterstreichungen und mit jeder Menge Ausrufezeichen (s.o.) tätowiert hatte. Als Reaktion auf den Werkstatt Titel nickte er und meinte, dass es ihn nerve, dass Politiker immer ICH sagen und so tun würden, als wären sie es allein, die ein Konzept entwickelten oder Ähnliches, dabei seien sie immer auf ihr Team angewiesen, aber sie würden das niemals erwähnen.
Das lässt sich wunderbar mit dem autobiografischen Schreiben vergleichen. Da ist ebenfalls ein ganzes Team aktiv und arbeitet diesem nebulösen ICH zu. Nehmen wir etwa das Persönlichkeitsmodell vom Inneren Team, das besagt, dass in uns permanent verschiedene Stimmen sprechen. Diese innere Pluralität können wir konstruktiv nutzen, wenn wir alle Stimmen in einer sogenannten inneren Ratsversammlung zu Wort kommen lassen. Bezogen auf das innere autobiografische Team kann beispielsweise die Stimme unserer Mutter Teammitglied sein, die unser Selbstbild auch in Bezug aufs Schreiben geprägt hat sowie die Stimme unseres früheren Deutschlehrers. Natürlich ist unsere innere Kritikerin Teil des Teams und meist übereifrig bei der Sache und auch unsere literarischen Vorbilder können Mitspracherecht verlagen – in meinem Fall sicherlich die Stimme von Annie Ernaux, die meine Worte unablässig kommentiert. Alle nehmen Einfluss auf unser autobiografisch schreibendes ICH. Entsprechend sinnvoll ist es, eine regelmäßige Ratsversammlung abzuhalten, um in gesundem Schreibfluss zu bleiben und bei Blockaden die Ursache zu finden. Als Betreffzeile der Einladungsmail an alle Mitglieder schlage ich vor: IMMER WIEDER WIR.
zurück