09. Dezember 2012

„IN MEINER FAMILIE WURDE GESCHWIEGEN.“

Eigentlich wollte ich heute aus Mails zitieren, die ich auf meinen letzten Blogeintrag hin erhalten habe. Aber das werde ich nun auf nächste Woche verschieben, denn gerade eben, als ich von einem schönen Schneespaziergang zurückkomme, treffe ich eine Nachbarin, Künstlerin aus Hamburg, die mit zwei großen Plastiktüten an den Mülltonnen steht – „noch im Pyjama“, sagt sie lachend. Und obwohl ihr sicherlich sehr kalt ist, unterhalten wir uns eine Weile in der Dunkelheit im Schnee stehend und es entspinnt sich wie aus dem Nichts ein Gespräch über die Kraft der Literatur.

Sie habe sich gerade im Internet einen Weltempfänger bestellt, erzählt sie, da könne sie endlich mit der Welt in Verbindung sein (und lacht wieder), aber auch ihr geliebtes NDR hören mit den wunderbaren Lesungen morgens und abends. Dadurch habe sie schon viele Autoren kennengelernt, zum Beispiel Margriet de Moor und ihr Buch „Die Sturmflut“, das sei so fantastisch, das müsse ich lesen.

Es habe sie an Früher erinnert. An den Tag, als sie als Kind von einem Riesensturm fast weggeweht worden wäre… die kleinen Kiesel, die in ihre Kniekehlen prasselten, auf dem Weg von der Schule nach Hause, das muss so um 1952 gewesen sein und Jahre später sei ihr erst klar geworden, dass es der Tag nach der katastrophalen Sturmflut in Holland war.

Wir sprechen von Naturkatastrophen, von nationalen Traumata und vom Krieg, dessen Auswirkungen immer noch spürbar sind – jeden Tag! – und sie sagt, wie wichtig es sei, dass weiter darüber gesprochen werde. „In meiner Familie wurde geschwiegen“ und ich nicke.

Und als wir gemeinsam durchs Treppenhaus steigen, sagt sie, sie sei der Meinung, dass es im Grunde die Künstler seien, die diese Emotionen und Erlebnisse und eben all die Fragen für die Gesellschaft am Leben halten. Und zwar völlig unabhängig davon, ob es um das Thema Krieg gehe, das sei unerheblich. Es gehe darum, sich überhaupt mit dem Leben auseinanderzusetzen…

Ich bin neugierig geworden und habe soeben ein bisschen zum Buch recherchiert. Ich selbst kenne von de Moor lediglich den Roman „Erst grau, dann weiß, dann blau“. Über die Sturmflut lese ich in der ZEIT-Rezension, als das Buch 2006 erschien: „Es geht um Leben oder Tod, nichts weniger. Es geht um die Frage, was denn der Wert oder das Gewicht eines Lebens sein kann, um ernste und letzte Dinge also.“

Außerdem scheint ’Sturmflut’ interessant konstruiert zu sein, denn es wird in zwei Erzählsträngen erzählt, die jeweils einer der beiden Schwestern folgen, die im Mittelpunkt der Geschichte stehen. An sich nichts Besonderes, allerdings umfasst der eine Erzählstrang lediglich die zwei Tage rund um die Sturmflut, während der andere Strang jahrzehntelang weitergeht.

Aber das ist letztlich gar nicht wesentlich. Viel wesentlicher ist, dass dieses Buch offensichtlich vielen Menschen dabei geholfen hat, das Sprechen und Reflektieren über eine unfassbare Katastrophe am Leben zu halten.

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