25. Februar 2018

Paralleluniversum?

In diesem Jahr konnte ich auf der Berlinale leider nur drei Filme sehen. Einer davon hieß Classical Period und lief im Delphi Filmtheater in der Reihe Internationales Forum. Ich hatte keine Ahnung, wovon er handelte, als ich die Karte kaufte. Abgesehen davon, dass ich dieses Überraschungs-Prinzip als Berlinale-Strategie liebe, war es am Donnerstag die einzige und gleichzeitig letzte Möglichkeit, überhaupt noch einen Film zu sehen.

So wusste ich zum Zeitpunkt des Kartenverkaufs noch nicht, dass ich zwei Stunden später mit dem Regisseur Ted Fendt vor dem Filmtheater stehen würde, um ihn zu fragen, ob er der Ansicht sei, dass die Welt der Literatur eine Art Parallelwelt zur realen Welt sei oder ob sie im Gegenteil die abstrahierte Essenz der realen Welt darstelle.

Fendts Film hatte mich nämlich unvermutet mitten in meine eigene berufliche Welt der Buchclubs und literarischen Diskussionen katapultiert. Rund 60 Minuten lang zeigt er verschiedene Szenen aus dem Leben von Cal und Evelyn, zwei junge Menschen aus Philadelphia. Sogenannte literarische Geistesmenschen, die früh aufstehen, um Gedichte zu lesen, die stundenlang in Bibliotheken verbringen und die über drei aufgeschlagene Bücher gebeugt Dantes Göttliche Komödie Vers für Vers analysieren, um sich regelmäßig mit Gleichgesinnten in der Küche einer Privatwohnung zu treffen und zwar nicht etwa, um gemeinsam zu kochen, sondern um in einem Lesezirkel Dantes Höllenfeuer und seine Haltung zum Jenseits zu diskutieren.

Die SchauspielerInnen des Films spielen sich selbst, wie der Regisseur im Q&A im Anschluss an das Showing erzählt. So begeistert sie von der Göttlichen Komödie sind, so emotionslos, monoton und leise ist ihr Tonfall.

Natürlich kenne ich solche „Figuren“: Literaturbegeisterte, denen es egal zu sein scheint, ob die ZuhörerInnen ihren Monologen folgen können. LiteraturwissenschaftlerInn, die sich seit Jahren mit ein- und demselben Werk beschäftigen, aus dem Original zitieren können, die irgendwann die Fußnoten dem Haupttext vorziehen und die das Gespräch über ein bestimmtes Kapitel im Buch dem Gespräch über ein bestimmtes Kapitel ihres Lebens vorziehen.

Der Film ist ästhetisch zwar vergleichsweise uninteressant, besticht allerdings durch seine konsequent zurückhaltende, beobachtende und nicht-wertende (Kamera-)Haltung. Dies hat manche Zuschauer*innen offensichtlich irritiert oder schlichtweg gelangweilt. Mich hingegen hat es fasziniert, denn ich war dadurch konfrontiert mit meiner eigenen Haltung solchen Menschen gegenüber. Und mit eben jener Frage, die mich seit Jahren beschäftigt und die ich dem Regisseur gestellt habe, in der Annahme, dass er eine dezidierte Haltung dazu haben müsste.

Aber ich hatte mich getäuscht. Ted Fendt, ein sympathischer, junger und zurückhaltend wirkender Mann, hatte keine Antwort auf meine Frage.

Ich will nicht sagen, dass er ausgewichen ist. Ich hatte eher das Gefühl, dass das Thema für ihn nicht von Interesse ist und er sich entsprechend darüber noch keine Gedanken gemacht hatte. Und vielleicht ist ja genau dies indirekt seine Antwort: die klassische literaturwissenschaftliche Welt ist ein Universum für sich. Mit eigenen Gesetzen und mit Themen, die zwar Verbindung zur realen Welt aufnehmen können. Diese Verbindung ist allerdings nicht das Ziel all dieser detailbegeisterten Diskussionen.

Literaturwissenschaft um der Wissenschaft willen? Eine Art L’art pour L’art?

Was denken Sie?

zurück