29. November 2014

SCHWIMMENDE ZUNGEN

Sie wissen vielleicht, dass ich von Japan fasziniert bin. Dann wird es Sie nicht wundern, dass ich den Newsletter der Japanischen Botschaft abonniert habe. Meist scrolle ich sofort zur Rubrik ’Sprichwörter und Redewendungen’. Hier wird die Unterschiedlichkeit der sprachlichen Bilder im Deutschen und im Japanischen beschrieben, die für ein und dasselbe Grundsituation verwendet werden.

Dieses Mal ging es um die Redewendung „Es liegt mir auf der Zunge“. Im Japanischen sagt man Kotoba ga ukabanai. Wörtlich übersetzt bedeutet dies „Das Wort schwimmt gerade nicht vorbei.“

Wörter wie Fische. Fische, die im Meer leben. Je nach Lust und Laune schwimmen sie entweder an der Oberfläche und zeigen ihre prächtigen Farben. Oder aber sie befinden sich in geheimnisvoller Tiefe. Man weiß genau, dass sie sich dort unten aufhalten, aber es scheint unmöglich, sie nach oben zu locken.

Diese Situation kommt nicht nur beim Sprechen immer wieder vor, sondern natürlich auch beim Schreiben. Auf der Suche nach den passenden Wörtern, sprich: Fischen, sprich: schwimmenden Zungen stochert man im Leeren und fischt im Trüben.

Was kann man in solch einer Schreibsituation tun?

Aufhören beispielsweise, sich auf die methodische Angel zu fixieren oder wie besessen mit einer Denk-Harpune in den Wörter-See zu stechen. Denn selbst wenn dieser Akt erfolgreich wäre, würde es den Tod des Fisches bedeuten.

Weder Fische noch Wörter gehören jemandem. Jedenfalls nicht wenn sie in Freiheit geboren wurden und in Freiheit schwimmen dürfen. Dies zu akzeptieren bedeutet in letzter Konsequenz, nicht zu wissen, welcher Fisch als nächstes an der Wasseroberfläche erscheinen und vorbeischwimmen wird. Dies ist nicht immer leicht zu akzeptieren. Wenn es aber gelingt, dann können diese Überraschungen beim Schreiben wunderbare Glücksmomente auslösen.

Das wünsche ich Ihnen!

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