13. Juni 2020

Verhüllen, um sichtbar zu machen

Den heutigen Tag widme ich dem Phänomen der Verhüllung. Voller Wärme denke ich an den großartigen Künstler Christo, der vor wenigen Tagen an Pfingsten gestorben ist, und an seine Frau Jeanne-Claude, die bereits seit rund zehn Jahren tot ist. Beide waren ein charismatisches Team und hatten am selben Tag Geburtstag. Und raten Sie mal, an welchem… genau: heute. Heute wären beide 85 Jahre alt geworden. 

Die Kunst der beiden begleitet mich seit vielen Jahren und mein Besuch des verhüllten Reichstag im Sommer 1995 wird mir immer in Erinnerung bleiben und nicht nur wegen des Stoff-Fetzens, dessen offizielle Bezeichnung „aluminiumbedampftes Polypropylengewebe“ lautet, und den ich… nein, nicht illegal herausgeschnitten, sondern als offizielles give-away erhalten habe und den Sie im Foto sehen.

Christo & Jeanne-Claude haben verhüllt, um zu zeigen. Unsichtbar gemacht, um sichtbar zu machen. Verschleiert, um zu offenbaren und um neue Blicke und somit ein neues Bewusstsein auf etwas zu ermöglichen. 

Wie ist das in der Literatur? Geht es da nicht ebenfalls immer wieder auch darum, etwas zu verhüllen, beispielsweise um Spannung zu erzeugen oder ein Geheimnis zu etablieren? Oder darum, etwas zu verpacken – eine Wahrheit oder Lebensweisheit? 

Unser Akt des Lesens entspricht dann Seite für Seite einer bisweilen durchaus kathartisch wirkenden Enthüllung und bietet die Möglichkeit, einen neuen Blick zu werfen – auf Lebensthemen oder menschliche Verhaltensweisen. 

Und ist dieses „verhüllen, um sichtbar zu machen“-Prinzip vielleicht sogar eines der großen Geheimnisse guter Literatur? Was denken Sie? 

P.S.: Als ich heute Vormittag an der Karstadt-Filiale in Berlin Wedding vorbeigeradelt bin, sehe ich die Fassade schwarz verhüllt. Und ich erlaube mir ganz einfach die fiktionale  Vorstellung, dass die Filialleitung ganz sicher ebenfalls Christo-begeistert ist und anlässlich dessen Todes ebenso wie dessen Geburtstags eine Trauerflor-Verhüllung angeordnet hat. Ich denke, Christo hätte geschmunzelt oder sein Credo wiederholt: 

„Stoffbahnen – wie Kleidung oder Haut – haben etwas Zartes und Empfindliches; sie verdeutlichen die einzigartige Qualität des Vergänglichen.“

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