WELCHES WIRD DAS LETZTE BUCH SEIN, DAS WIR IN UNSEREM LEBEN LESEN?
Vor zwei Tagen war ich Premierengast der Künstlerkooperative Cultura, die jedes Jahr in Hildesheim eine besondere Performance inszeniert. Immer künstlerisch überraschend, innovativ, lustvoll und gesellschaftskritisch gleichzeitig. Die aktuelle so genannte performative Ess-Installation heißt „feedMe“ und dreht sich in locker ineinander gewobenen Szenen um das, was uns nährt.
Lebensmittel, klar, aber auch geistige Nahrung. Dazu passend sind in einer Wandnische rund zweitausend Bücher aufeinander und ineinander gestapelt und Tänzer Gustavo Fijalkow versucht, diese steile Bücherwand – ein herausforderndes Buchmassiv – in einer Art freeclimbing hinaufzuklettern, indem er auf „hervorragende“ Bücher steigt, sich an ihnen festhält und – egal, wie geschickt er sich anstellt – früher oder später scheitern muss, auf den Boden zurückfällt, dabei Bücher mit sich zu Boden reißt, um sofort von Neuem zu beginnen. So ergießt sich auf dem Boden nach und nach ein immer größer werdendes Meer aus Büchern bis vor unsere Füße.
Diese Szene hat mich beeindruckt und viele Assoziationen ausgelöst: Unsere Sehnsucht nach geistiger Nahrung. Die Gier nach „immer mehr“. Die Ohnmacht angesichts der nicht bewältigbaren Menge. Das Scheitern und immer wieder neu Anlauf nehmen.
Und ganz konkret auf reale Bücher bezogen: die Utopie, den Gipfel zu erreichen und somit alles gelesen zu haben, was man schon immer einmal lesen wollte: am Feierabend, im Urlaub, im Ruhestand…
Und natürlich kam mir Sisyphos in den Sinn. So wie dieser nach seinem Tod von Zeus auf Ewigkeit dazu verdammt war, einen Marmorblock den Berg hinaufzurollen, so verdammen wir Menschen uns oft selbst dazu, noch vor unserem Tod einen nicht minder gewichtigen virtuellen Bücherberg den Alltag hinaufzurollen, und können ihn doch nicht bewältigen.
Welches wird das letzte Buch sein, das wir in unserem Leben lesen werden?
Im Gegensatz zu Sisyphos haben wir allerdings die Wahl. Wir können jederzeit innehalten, wenn wir wollen, den Blick vom Gipfel abwenden, uns stattdessen im Büchermeer treiben lassen wie auf einer sanften Luftmatratze und von dieser aus genussvoll in den Himmel blinzeln.
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