04. März 2018

WENN MAN NEBEN EINER LITERARISCHEN FIGUR SITZT

Am Donnerstag hat mein neues Seminar „Historisches Schreiben“ am Weiterbildungszentrum der Freien Universität begonnen. Im Zentrum steht die Frage, wie man einen literarischen Text historisch glaubwürdig machen kann.

Eine Methode ist beispielsweise, eine Figur mit Eigenschaften, Hobbies oder anderen Aspekten auszustatten, die es einem auf elegante Weise ermöglichen, spezifische zeitgeschichtliche oder kulturelle Aspekte in den Text einzubauen. Und genau so eine Figur saß am Montag im ICE neben mir, als ich aus Süddeutschland zurück nach Berlin fuhr und auf der Fahrt an der Vorbereitung meines Seminars gearbeitet habe.

Diese Figur war männlich, 69 Jahre alt, Typ Berliner Schnauze, nüchtern aber liebenswürdig und seeeeehr gesprächig. So erfuhr ich, dass sie, die Figur, jerade aus Paris jekommen is, wo sie tajelang mit der Straßenbahn durch die Stadt jejondelt war, vor allem frühmorjens sei dit herrlich, wa, denn dit is mein Hobby, schon immer jewesen, seit icke neune war, wa, aber jetze, wo icke berentet bin, koste ick dit richtigjehend aus, wa.

Auf einer stundenlangen Fahrt kann man viel über eine Figur erfahren. Auch, dass sie in ihrer obligatorischen kleinen schwarzen kunstledrigen Männerhandtasche mit Schlaufe tatsächlich noch einen alten Falk-Stadtplan von Paris versteckt hat („Ach watt, der jeht noch!“).

Am liebsten hätte ich diese Figur als ebenso stereotypes wie glaubwürdiges Exemplar in mein Seminar mitgenommen, um den Teilnehmer*innen voller Begeisterung zuzurufen: „Seht euch dieses wunderbare Exemplar an! Wenn ihr eine solche Figur erfindet, könnt ihr sie von ihrer Leidenschaft erzählen lassen und anhand der historischen Entwicklung der Straßenbahnen die verschiedenen Jahrzehnte und Orte beschreiben. Oder politische Aspekte. Vielleicht wollt ihr sie im Osten aufwachsen lassen und dann die erste Reise in Freiheit beschreiben, die nach Lissabon ging, um die berühmte Tram 28 zu erleben, eine ehemalige Pferdestraßenbahn, die seit 1901 elektrisch betrieben ist. Oder ihr könnt sie in die belgische Kusttram setzen, die streckenweise direkt am Strand entlangfährt und dann lasst ihr sie aus dem Fenster sehen und von ihrem Vater erzählen, der eine zeitlang in Belgien gelebt hat, weil wiederum sein Vater damals… “

Als wir in den Berliner Hauptbahnhof einfahren, versichert mir die Figur beim Abschied, dass in ein paar Jahren in fast allen Städten selbstfahrende Straßenbahnen im Einsatz sein werden. Und damit hat sie mir sogar noch einen Blick in die historische Zukunft geschenkt.

Gefällt Ihnen diese Figur? Sie können Sie gern für eine eigene Geschichte nutzen. Ich schenke sie Ihnen. Denn vielleicht sind Sie von der Straßenbahn als Metapher ebenso fasziniert wie Nobelpreisträger Claude Simon, in dessen 2001 erschienenen Buch „Die Trambahn“ der Erzähler in seine Kindheit in Perpignan zurückblickt und die Route einer Straßenbahn zu einer Art Gefährt durch die Erinnerung wird: vom Badestrand mit Tanzmusik, vorbei am Kriegsinvaliden-Denkmal bis hin zur Endstation vor dem Kino mit seinen grellen Plakaten.

Historisches Schreiben par excellence.

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