16. Dezember 2023

BÜHNENPRÄSENZ

Seit Annie Ernaux letztes Jahr den Literatur Nobelpreis erhalten hat, bespreche ich immer wieder ihre Bücher. Vor wenigen Tagen ist ein umfangreiches Seminar zu Ernauxs Literatur zu Ende gegangen und nun ist mir klar geworden, warum sich viele Leser*innen mit ihren Büchern so schwertun.

Beispielsweise wenn Ernaux in „Erinnerung eines Mädchens“ von sexuellen Übergriffen erzählt, die sie in den 50er Jahren als 17jährige erfahren hat und über die sie nach mehreren vergeblichen Anläufen erst als 74jährige schreiben konnte, um – wiederum Jahre später – schließlich explizit von Vergewaltigung zu sprechen. 

Zusätzlich zur Tatsache, dass Ernauxs Themen für viele Leser*innen zu intim sind, was häufig eine abwertende Schutzreaktion provoziert, ist es – so bin ich jetzt überzeugt – vor allem Ernauxs Stil, der für viele Menschen ungewohnt ist. Als „Ethnologin ihrer selbst“, wie sie sich immer wieder bezeichnet, legt sie Schicht für Schicht ein Ereignis frei, eine Erfahrung, ein Gefühl. So weit, so gut. Doch sie tut dies in permanenten Suchbewegungen mit nüchternen Worten und ohne Wertung. Sie erzählt in Fragmenten und nicht entlang eines Plots. Sie konstruiert keinen Charakter, sondern dekonstruiert ihre Figuren und lässt uns dabei außerdem noch an ihrem Schreibprozess teilhaben. Sie ist also nicht an literarischer Illusion interessiert und sie hat auch keine Botschaft, sondern erkundet Phänomene. Sie ahnen es, ich bewundere Ernauxs Stil. Umso mehr haben mich die Reaktionen einiger Teilnehmerinnen regelrecht erschüttert, was mir in diesem Ausmaß noch nie passiert ist. 

Mit einigen habe ich im Anschluss an die Lektüre die „Erinnerung eines Mädchens“ an der Berliner Schaubühne gesehen. Hier war die Reaktion ausnahmslos positiv. Derselbe Text, aber diesmal eingebettet in eine Inszenierung, bei der die Schauspielerin Veronika Fischbacher mit zusätzlichem Text gezielt Kontakt mit dem Publikum aufgenommen und somit die nüchternen Worte auf klassisch schauspielerische Weise lebendig gemacht hat. Manchmal können sich Menschen leichter mit einer bühnenpräsenten Figur identifizieren als mit einer Figur in einem Text, der nicht auf Verbindung zielt und auch ich habe die wirklich großartige Darstellung genossen, keine Frage. 

Nach der Vorstellung habe ich die Schauspielerin an der Bar angesprochen, um ihr zu gratulieren und wir sind ins Gespräch gekommen. Sie hat mir erzählt, dass sie bezüglich Reaktionen ähnliche Erfahrungen gemacht habe wie ich und dass sie selbst beim ersten Lesen das Buch nach der Hälfte am liebsten zugeklappt hätte, sie dann aber die wichtige zeitlose Geschichte weiblicher sexueller Sozialisation erkannt habe. Es würde sie als Schauspielerin freuen, wenn diese Inszenierung ein Gesprächsbeitrag zu genau diesem Thema wäre. Wir haben also dasselbe Ziel: denn wichtiger als der Genuss, Ernauxs Bücher gemeinsam zu analysieren ist es mir immer, ihre Bücher als Gesprächsanlass zum Teilen eigener Erfahrungen zu ermöglichen. Und dies ist glücklicherweise auch in meinem letzten Seminar passiert. P.S.: Falls Sie noch nichts von Ernaux gelesen haben sollten, empfehle ich Ihnen „Die Jahre“, mein persönlicher Favorit, weil er alle oben beschriebenen Aspekte unfassbar gelungen vereint. Mailen Sie mir, was Sie davon halten? (Und natürlich auch, wenn Sie das Buch nach der Hälfte weglegen… oder sogar früher.)

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