20. September 2015

DIE GRENZEN DER RELATIVITÄTSTHEORIE

Am Dienstag trug ich an meinem linken Handgelenk zwei Armbanduhren, als ich im U-Bahnhof Kurfürstendamm auf einer Bank saß, um auf die Bahn zu warten. Als ich meinen Jackenärmel hochschob und nach der Uhrzeit sah, sprach mich die etwa 60jährige Frau an, die links neben mir saß.

„Zwei Uhren?“, fragte sie schlicht. Als erstes fielen mir ihre dunklen Augen auf und ihr Blick, den man klassischerweise als wach und offen bezeichnen würde. Sie war klein, hatte eine weiche Ausstrahlung und ein Tuch um ihren Kopf geschlungen.

„Ja“, sagte ich ebenso schlicht und lächelte sie an.

„Haben Sie Familie in Amerika?“ Ihr Deutsch ließ vermuten, dass sie zwar bereits lange, aber noch nicht ihr gesamtes Leben in Deutschland gelebt hatte. Vielleicht hatte sie iranische Wurzeln, oder ägyptische oder…

„Manche haben Familie in anderen Ländern und tragen dann zwei Uhren,“ fuhr sie fort. „Dann wissen sie immer, wie spät es zuhause ist.“ Sie sagte ’zuhause’ und das versetzte mir einen Stich im Herzen, sodass ich nicht anders konnte als sie zu fragen, ob sie selbst denn Familie im Ausland habe. „Ja… aber nicht Amerika.“ Die Art wie sie antwortete und danach ihren Blick anwendete, machte deutlich, dass sie nicht weiter danach gefragt werden wollte. So sagte ich lediglich: „Aber Sie brauchen keine zweite Uhr. Sie wissen immer wie spät es dort ist, nicht wahr?“

„Albert Einstein hat gesagt, alles ist relativ… Und zwar nicht nur die Uhrzeit,“ sagte sie.

„Ja, das stimmt. Der Bahnsteig hier zum Beispiel… Alle warten auf die U-Bahn, aber alle leben in ihren verschiedenen Welten“, sagte ich und wusste gar nicht richtig, worauf ich hinauswollte.

Aber sie nickte und sagte: „Und trotzdem sind wir alle gleich.“

„Ja.“

In diesem Moment lief ein kleines Mädchen an der Hand seiner Mutter an uns vorbei und zeigte uns einen runden Lolli. Da zupfte die Frau plötzlich ganz sanft meinen linken Handrücken. Ich sah hinunter. Sie hielt die Haut immer noch zwischen ihren Fingern und es kam mir vor, als wären wir in einer Art Zeitlupe eingeschlossen.

„Tut das weh?“

„Nein,“ sagte ich.

Die U-Bahn fuhr ein und sie stand auf (ich blieb sitzen, denn ich wollte in die andere Richtung.) Sie blieb direkt hinter der Tür stehen und drehte sich um. Wir sahen uns schweigend an. Ich war kurz davor, aufzuspringen und zu ihr in die Bahn zu steigen, als sich die Türen schlossen. Als die Bahn losfuhr winkten wir uns zu.

Dann verstand ich. Das Zwicken in meine Hand: so unterschiedlich wir Menschen auch sind, im Schmerz sind wir alle gleich.

Natürlich musste ich an die Theater-Premiere von „Nichts“ denken und an die These, dass die Bedeutung des Menschen im Schmerz anfängt (siehe mein letzter Blogeintrag). Doch was mich wirklich berührte, war, dass sie mir nicht weh tun wollte.

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