DIE NEUNTEN WERDEN DIE ZWEITEN SEIN
Letzten Sonntag habe ich im Festspielhaus Baden-Baden Bruckners Neunte Sinfonie gehört. Im Programmheft ist von der „geheimnisvollen Neunten“ die Rede: „Der Nimbus einer ultimativen Neunten schwebt über dem Werk. Seit Beethoven galt eine Sinfonie mit dieser Nummer als eine Grenze, die keiner zu überschreiten wagte.“ Dies schrieb Arnold Schönberg anlässlich des Todes von Gustav Mahler, der sein Werk mit einer Neunten abgeschlossen hatte und über der Zehnten starb. Seine These: „Diejenigen, die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe, und in einer Zehnten könne etwas gesagt werden, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind.“
Immer mal wieder habe ich in dieser Woche darüber nachgedacht, wie schwierig es wohl sein mag, als KomponistIn am neunten Werk zu arbeiten und sich von allem Dramatischen zu befreien, was auf einer „Neunten“ lastet.
Bei Schriftsteller*innen gibt es eine Parallele. Hier handelt es sich allerdings nicht um „die Neunte“, sondern um „den Zweiten“, den zweiten Roman nämlich. Der Druck, der auf dem zweiten Roman lastet, wenn der erste ein Erfolg war, ist für manche Autor*innen nur schwer zu ertragen und führt nicht selten zu enormen Schreibblockaden, Krisen und zeitlichen Verzögerungen.
Rolf Dieter Brinkmann beispielsweise berichtet von quälenden „ergebnislosen Versuchen einen zweiten Roman zu schreiben.“
Jonas Jonasson, der nach seinem Erstlings-Bestsellererfolg des „Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg“, muss erst einmal sein komplettes Leben umstellen und benötigt mehrere Jahre, bis er seinen zweiten Roman zu Ende schreiben konnte. Oder Helene Hegemann, die erstens als sehr junge Autorin und zweitens aufgrund des Plagiat-Skandals um ihr Erstlingswerk Axolotl Roadkill unter besonderem Druck stand. Um nur ein paar Beispiele aus jüngeren Zeit zu nennen.
Besonders bildhaft beschreibt Ayelet Gundar-Goshen die Situation, einen zweiten Roman zu schreiben, nachdem ihrem ersten Roman „Eine Nacht, Markowitz“ in Israel und in Deutschland sehr viel Beachtung geschenkt, in vier weitere Sprachen übersetzt und von der BBC als Fernsehserie verfilmt wurde. Sie sagt:
„ Die Entscheidung, einen Roman zu schreiben, unterscheidet sich generell nicht allzu sehr von der Entscheidung, einen Drachen zu reiten. Da steht dieses riesige, beängstigende Ding vor dir, und anstatt schnellstens die Flucht zu ergreifen, sollst du auf seinen Rücken springen. Er ist größer als du, hat gewaltige Flügel, und du musst ihn zähmen, ansonsten wirft er dich ab. Das Schlimme an Drachen wie an Büchern ist, dass wenn du sie ein Mal gezähmt hast, du es nicht zwangsläufig ein zweites Mal schaffst. Aber wenn du an deinem zweiten Roman sitzt, und der Drache beginnt, Feuer in deine Richtung zu spucken, dann kann man sich an der Erinnerung festhalten, das erste Mal überlebt zu haben. “
Schreibt jemand von Ihnen gerade am zweiten Roman? Dann wünsche ich viel Mut beim Drachen reiten!
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