DURCHSETZEN
Vor drei Tagen, am Donnerstag, wurde der diesjährige Literaturnobelpreis bekannt gegeben: Kazuo Ishiguro wird ihn erhalten. Ich kenne von ihm lediglich sein wohl bekanntestes Buch „Was vom Tage übrig blieb“ und da es bereits so lange her ist, seit ich es gelesen habe, erinnere ich mich wesentlich besser an die Verfilmung durch James Ivory und an das ebenso faszinierende wie berührende Spiel von Emma Thompson und Anthony Hopkins.
Vorgestern morgen, einen Tag nach der Bekanntgabe, stehe ich kurz nach acht Uhr morgens in der Stadtbibliothek Stuttgart vor dem Angestellten-Fahrstuhl und warte, bis er kommt. Ich werde an diesem und am kommenden Tag hier Vorleseworkshops leiten. Die Bibliothek hat offiziell noch geschlossen, alles ist sehr still und auch hier in dem kleinen nüchternen Vorraum bin ich allein.
Vermutlich stellt in diesen Minuten eine Bibliothekarin im achten Stockwerk, dem Stockwerk Literatur, gerade eine Extrafläche mit Ishiguro Büchern zusammen und ich frage mich, wie lange es wohl dauern wird, bis all seine Bücher hier ausgeliehen sein werden. Einen Tag? Einen halben? Zwei Stunden?
Der Fahrstuhl lässt lange auf sich warten und so fällt mir das einzige Wort ins Auge, das in diesem kleinen Raum hier zu lesen ist. Das Wort steht auf einem Knopf, den man drücken muss… wenn es brennt? Keine Ahnung.
Das Wort lautet „Durchsetzen“.
Und ich denke: Ja: Was vom Tage übrig bleibt ist das, was sich durchgesetzt hat. Diejenigen Gedanken- und Gefühlsfäden, die den Tag am stärksten durchsetzt haben.
Kann ich am Anfang eines Tages beeinflussen, was am Ende des Tages von ihm übrig bleiben wird? Durch thematische Fokussierung und entsprechende Aufmerksamkeitslenkung? Durch Einlassen und Hingabe? Oder im Gegenteil: durch Loslassen jeglicher bewusster Beeinflussung?
Als der Fahrstuhl endlich kommt und ich wenige Minuten später meinen großen roten Rollkoffer in den Raum rolle, in welchem ich gleich arbeiten werde, schwingt das Wort „Durchsetzen“ in mir auf eine neue Weise. Es hat jegliches harte Durchsetzungsvermögen à la Survival of the Fittest verloren und freut sich stattdessen auf die Gefühle und Gedanken, die den Stoff des Tages durchsetzen werden.
Auch Kazuo Ishiguro hat sich durchgesetzt. Beim Nobelpreis-Komitee. Ich freue mich für ihn. Was am Ende des Tages der Preisverkündung wohl bei ihm übrig geblieben ist?
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