23. August 2013

EIN ROMAN ALS LIEBESBRIEF

Gestern habe ich mit einem Klienten eine der zentralen Fragen diskutiert, die bei der schreibstrategischen Planung eines Romans auftauchen: muss ich bereits zu Beginn meines Schreibens genau wissen, wie der Roman enden wird?

„Um einen Liebesbrief zu schreiben, musst du anfangen, ohne zu wissen, was du sagen willst, und endigen, ohne zu wissen, was du gesagt hast.“ Dieses Zitat stammt von Rousseau und wurde gestern im 3sat Kulturzeit-Beitrag über Per Olov Enquists neuen autobiografischen Roman „Das Buch der Gleichnisse“ erwähnt. In diesem Roman erfüllt ein Mann den Wunsch seiner Geliebten, ihr nach (!) ihrem Tod einen Liebesbrief zu schreiben. Aus diesem Liebesbrief entsteht ein Roman und diesen halten wir in der Hand, wenn wir Enquists Buch lesen.

Natürlich ist es ein Unterschied, werden Sie sagen, ob man einen Liebesbrief schreibt oder einen Roman. Und natürlich sollte man wissen, wie der Roman, den man zu schreiben gedenkt, enden wird (auch wenn es naturgemäß Ausnahmen von dieser Regel gibt). Denn nur dann können Sie sinnvoll und folgerichtig auf dieses Ende hinschreiben und verfransen sich nicht in literarischen Sackgassen.

Aber stellen Sie sich jetzt einfach mal Folgendes vor: Ihr geplanter Roman ist in Wirklichkeit ein Liebesbrief. Vielleicht an eine geliebte Person (sei diese real oder fiktional). Vielleicht an Ihre Leser*innen. Vielleicht an Sie selbst.

Und dann… dann dürfen Sie sich – ganz im Rousseau’schen Sinn – die Freiheit erlauben, NICHT zu wissen, was Sie schreiben werden und geschrieben haben. Dürfen diese besondere Durchlässigkeit genießen und einfach darauf vertrauen, dass Sie die passenden Worte für Ihre Gefühle und Gedanken finden werden. Und zwar nicht aus einer Vorab-Überlegung heraus, sondern aus Liebe!

Ist das nicht eine schöne Vorstellung?

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