01. Mai 2023

FREE BIRD

Während ich diesen Post schreibe, findet in Sheffield das Finale der Snooker Weltmeisterschaft statt. Der vierfache Weltmeister und Weltranglistenzweiter Marc Selby aus England spielt gegen den Belgier Luca Brecel, die Weltranglisten Nummer zehn.

Wann immer möglich verfolge ich diese Weltmeisterschaft auf Eurosport. Und während ich über die verschiedenen Spielerpersönlichkeiten, Strategien und Herausforderungen nachdenke, ploppen vor meinem inneren Auge Analogien zum Schreiben von Geschichten auf. 
Im Snooker besteht ein Game aus verschiedenen Sessions (Spieleinheiten), die wiederum aus mehreren so genannten Frames, einzelnen Spielen, bestehen. Ein Game ist also wie eine Geschichte, deren einzelnen Sessions = Kapitel in einzelne Frames = Szenen aufgeteilt ist. 
Ein Frame entspricht dem Rahmen, innerhalb dessen ich schreibe: den ungeschriebenen Gesetzen, den literarischen Traditionen, den Bedürfnissen der Zielgruppe etc. 
Die weiße Kugel, mit der gespielt wird, entspricht der jeweiligen Intention, der Stoßrichtung, mit der ich alle Kugeln =  Figuren, Themen, Orte etc. bespiele. Ziel ist, alle Kugeln möglichst perfekt zu lochen, entsprechend also alle Figuren und Themenfäden strategisch perfekt durch jeden Szenenframe führen. Wenn ich eine Kugel sogar spektakulär über mehrere Bande lochen kann, dann gelingt es mir unvorhersehbar, spannend und atemberaubend zu schreiben. 
Zusätzlich zu den verschiedenen Spielweisen = Schreibstilen gibt es die so genannten Exhibition Shots, die primär zum Ziel haben, dass die Spieler*innen dem Publikum ihr Können virtuos zur Schau stellen. Entsprechend könnte ich diejenigen Sätze, die das stilistische Können der Autor*innen unter Beweis stellen, als Exhibition Sentences bezeichnen.
Besonders interessant finde ich auch die Tatsache, dass es nicht ausschließlich darum geht, die nächste Kugel zu lochen, sondern dass ich immer mindestens ein oder zwei Spielzüge voraus denken muss, um die weiße Kugel, mit der ich schieße, in eine möglichst ideale Position für den kommenden Spielzug zu bringen. Genauso ist es auch beim Schreiben eines Satzes: Es geht nicht nur um den möglichst perfekten nächsten Satz, sondern ich muss immer auch die daraufolgenden Sätze mitdenken. 
Beim Snooker wie beim Schreiben muss ich meine Konkurrenz, die sich mit mir am Tisch oder auf dem Buch Markt befindet, genau studieren. Gleichzeitig muss ich mit Selbstbewusstsein meinen eigenen Stil spielen und schreiben. Ich darf Spieler, die auf der Weltrangliste höher stehen, bewundern und von ihnen lernen, mich von ihrer Professionalität oder Berühmtheit aber nicht irritieren oder demotivieren lassen. Dasselbe gilt für Autor*innen. 
Marc Selby ist als Favorit in dieses Spiel gegangen, aber Luca Brecel liegt aufgrund seiner bewundernswerten Ruhe und seinem Mut zum Risiko im Moment vorn. Vielleicht hat ein Mantra in Form eines Zwei-Wort-Symbols dazu beigetragen. Ein Symbol, mit dem er sich immer verbinden kann, wenn er seinen Kopf tief über seinen Arm neigt, um mit dem Queue die weiße Kugel zu stoßen. Auf die Finger seiner rechten Hand sind die Buchstaben FREE tätowiert und seine linke Hand trägt die Buchstaben BIRD (siehe Foto). 
Für mich ist ein freier Vogel ein wunderbares Symbol für die Qualität, mit der ich auch im Schreiben das Beste in mir entfalten kann: im freien Flug durch die Luft zu fliegen, zu singen und zu schreiben. Ja, ich wünsche mir, dass Luca Brecel, der freie Vogel, die Weltmeisterschaft gewinnt und werde ihm heute Abend ab 20:00 Uhr auf Eurosport in der letzten Session die Daumen drücken. Machen Sie mit? 
 
P.S.: Da fällt mir der Schreibratgeber von Anne Lamott ein, die an der Universität von Kalifornien kreatives Schreiben unterrichtet. Der Titel lautet BIRD BY BIRD – Wort für Wort. Ein gutes Omen, finde ich. 

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