13. Mai 2018

INTELLIGENTE UNTERHALTUNG

Sie wissen vielleicht, dass ich leidenschaftliche Sammlerin bin. Unter anderem sammle ich Menschen. Lesende Menschen. Lesende Menschen in der Berliner U-und S-Bahn. Zuerst mache ich ein Foto von ihnen (ohne dass sie es merken und ohne, dass ihr Gesicht ganz zu erkennen ist) und dann spreche ich sie an, um Näheres über sie, das Buch und ihre Lesegewohnheiten zu erfahren. https://www.literaturschneiderei.de/portraet/atelier/lesezeichen/

Ich vergesse diese Menschen nicht und wenn ich beispielsweise in einer Buchhandlung eines der Bücher sehe, denke ich an sie.

Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass ich einen dieser Leser*innen je wiedersehe. Aber in dieser Woche ist das tatsächlich passiert.

Als ich in der Turmstraße in die U-Bahn steige und mich setze, erkenne ich ihn sofort: diesen Mann, mit dem ich mich vor vielen Jahren unterhalten habe. Es war ein langes Gespräch. Das weiß ich noch und auch, dass er in Friedenau wohnt und viel liest und immer Bücher bei sich hat, wenn er unterwegs ist.

Klar, dass ich ihn sofort fotografiere, um ihn so schnell wie möglich ansprechen zu können.

„Entschuldigung…“

„Ja?“

„Wir haben uns vor vielen Jahren schonmal in der U-Bahn unterhalten.“

(Wenn ich dieses Gespräch jetzt notiere, fällt mir auf, dass dieser Satz etwas seltsam anmutet und das erklärt auch seine offensichtliche Skepsis, mit der er mich angesehen hat.)

„Sie wohnen in Friedenau, stimmt’s?“

(Ich wollte ihn mit dieser Aussage vom Wahrheitsgehalt meines Satzes davor überzeugen, aber stattdessen schien seine Skepsis noch größer zu werden.)

Aller guten Dinge sind drei, also wagte ich einen dritten Anlauf.

Sie lesen viel, stimmt’s? Was haben Sie heute dabei?“

Intelligente Unterhaltung.“

Ich musste lachen. Das war eine verblüffende Antwort. Und das Eis gebrochen. Er erzählte mir vom Irrtum des Dottore Gambassi und dass dies ein Krimi sei, der den Namen Krimi noch verdiene. Keine zerstückelten Leichen, kein Horror. Dafür Landschaft und gute Dialoge.

Ich verstand.

Schließlich packte er das Buch in seine Tasche und stand auf.

Ich muss aussteigen,“ sagte er und gab mir die Hand zum Abschied.

Wir näherten uns dem U-Bahnhof Walther-Schreiber-Platz. Friedenau.

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