KOPFÜBER oder: GEGEN DEN STRICH
Kurz vor meinem Autobiografie-Seminar letzten Dienstag treffe ich auf eine Teilnehmerin. Sie hat ihren Kopf weit nach unten gebeugt und bürstet ihre Haare gegen den Strich. Dann nimmt sie Schwung und richtet sich wieder auf.
Die Bedeutung der Frisur im eigenen Leben, denke ich. Die Auswirkung auf das Selbstbild ebenso wie auf das Bild, das andere Menschen von jemandem haben. Die Frisur als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, aber auch als potentielles Feld des Maskierens durch den Einsatz von Farbe, Wicklern, Dauerwellen, Fön bis hin zu Haarverlängerungen und Perücken (sei dies aus Krankheitsgründen oder aufgrund von Modetrends).
Wie viele und vor allem welche dieser Masken tun dem eigenen autobiografischen Schreiben gut? Benötigt man überhaupt welche? Als Schutz? Schutz wovor?
Das geht mir durch den Kopf, während die Teilnehmer*innen schreiben. Und in der Pause frage ich besagte Teilnehmerin, ob ich sie als Muse für meinen Blog einsetzen darf und mache in der Seminarpause das Foto, das Sie hier sehen.
Ein paar Tage später schreibt sie mir: „Kopfüber oder besser kopfunter bürste ich meine Haare gegen den Strich. Für einen Moment steht die Welt auf dem Kopf, das einzelne Haar trennt sich von seinem Nachbarhaar und legt sich leicht neben ein anderes. Mein Oberkörper schwingt, die Rückenwirbel neigen sich erst zu-, dann voneinander. (…) Der Kopf schnellt wieder nach oben. Ich streiche das Haar in eine natürliche Form und sehe den Tag mit einem frischen Blick.“
Und genau darum geht es auch beim Autobiografischen Schreiben: die einzelnen Themen-, Erlebnis- und Erfahrungshaare für einen Moment vom gewohnten Nachbarhaar zu trennen und sie – schreibend – neben ein anderes zu legen. Es geht um die „natürliche Form“ und darum, dem Tag und somit dem eigenen Leben mit einem frischen Blick zu begegnen.
Das wünsche ich Ihnen.
zurück