PLANET WERMUT
Es beschämt mich immer wieder, wie wenig ich über die Literatur mancher Länder weiß. Rechercheanlass, um dies zu ändern, war in der Vergangenheit meist ein TV-Beitrag oder literarischer Preis, eine Rezension oder Verfilmung. Noch nie war ein Krieg der Anlass.
Bis vor wenigen Tagen wusste ich nichts, aber auch gar nichts über ukrainische Literatur, begann zu recherchieren und bin immer wieder bei einer Autorin gelandet, die auch Dichterin und Essayistin ist, promovierte Philosophin, streitbare Feministin und politische Aktivistin. Eine Autorin, die Gastprofessorin an mehreren US-amerikanischen Universitäten war sowie jahrelang Vizepräsidentin des ukrainischen PEN-Zentrums. Vor wenigen Tagen hat sie anlässlich des Internationalen Frauentags vor dem Europaparlament gesprochen: Oksana Sabuschko, die in ihrem Essayband „Planet Wermut“ die Ukraine als letztes Territorium Europas bezeichnet.
Wenn ich in das Gesicht von Sabuschko blicke, ihre Stimme höre und ihre Texte lese, dann spüre ich die Kraft, mit der sie sich dem Leben zuwendet sowie ihre Erfahrung und ihr intuitives Wissen, das sie ganz offensichtlich über das menschliche Leben hat. Dieser Ausschnitt aus ihrem Roman „Das Museum der vergessenen Geheimnisse“ spricht mich momentan besonders an:
„Ich neige inzwischen zur Ansicht, dass das menschliche Leben nicht nur eine episch aufbereitete Story mit Personal (Eltern, Kinder, Geliebte, Freunde, Kollegen, wer noch …?) ist, die man als mehr oder weniger komplette Abbildung an die Nachfahren weiterreichen kann, so sieht es nur ein fremder Blick, eine Perspektive auf das Leben wie durch das umgedrehte Ende eines Fernrohrs, durch die Linsen verschiedener kurzgefasster Lebensläufe, autobiografischer Anekdoten und Küchengeschichten, der Privatmythen, also das fortwährende Zurechtstutzen der Form für das menschliche Auge; betrachtet man das Leben dagegen aus seiner Mitte heraus, erscheint es wie ein gewaltiger, unförmiger Koffer, vollgestopft mit – für andere überflüssigem – Kram, und diesen Koffer nimmt der Mensch unwiederbringlich mit sich, wenn er diese Welt verlässt.“
Ich sehne mich nach einer Zukunft, in der ich beim Lesen dieses Romanausschnitts nicht unwillkürlich an die Koffer ukrainischer geflüchteter Menschen denken muss, sondern ich die literarische Qualität dieses einen (!) Satzes ohne bitteren Wermutbeigeschmack genießen kann. Und doch weiß ich, dass politische Botschaft und literarische Qualität Hand in Hand gehen können. Sabuschko ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.
P.S.: Auch diese Autorin hat die Ukraine zu Kriegsbeginn verlassen. Sie hatte keinen Koffer bei sich. Lediglich Handgepäck.
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