POLYDAKTYLE TEXTE
Ich bin zwar wieder zurück in Deutschland, aber nachts im Dunkeln höre ich immer noch das sanfte Schnurren der vielen Katzen, denen ich am vorletzten Tag des vergangenen Jahres begegnet bin und zwar auf Key West, Florida im Haus von Ernest Hemingway.
Im Haus selbst sowie auf dem großzügigen Grundstück streunen nicht nur jede Menge Tourist*innen, sondern auch rund 20 Katzen.
Das Besondere: allesamt sind sie Nachfahren der ersten Katze namens Snowball, die Hemingway von einem Kapitän geschenkt bekommen hat. Hem liebte Katzen und ließ sich für sein Schreiben nicht zuletzt von ihrer unbestechlichen Unabhängigkeit inspirieren.
Während meines Besuchs konnte ich zwei dieser Katzen längere Zeit beobachten. Die eine saß auf dem Teppich vor Hemingways Schreibtisch. Die andere hielt auf seinem Bett eine Siesta. Und ich habe mir vorgestellt, dass deren Vorfahren das Tippen jener Schreibmaschine gehört haben, die Sie hier auf dem Tisch sehen.
Übrigens: Hems Katzen haben eine weitere Besonderheit. Sie sind allesamt polydaktyl, sprich: sie haben an manchen Pfoten zwei Zehen mehr.
Auch Hemingways Texte sind besonders. Auch sie – so könnte man sagen – sind polydaktyl und haben zwei Zehen mehr.
Wofür diese Zehen stehen? Vielleicht für die außergewöhnliche Prägnanz seiner Sprache und die bewundernswerte Durchlässigkeit des Textgewebes? Oder für die Kompaktheit seiner Plots und die schonungslose Emotionalität seiner Figuren?
Auf der Suche nach den beiden literarischen Zehen lese ich momentan Hemingways Nick Adams Stories, die ich schon immer faszinierend fand. Ich kann sie sehr empfehlen, falls Sie Lust auf vielschichtige autobiografische Kindheitserinnerungen haben.
Und vielleicht machen Sie’s sogar wie Nick, das alter ego von Hemingway, der in der Story Das letzte gute Landsagt: „Wir lesen’s laut vor. Dann haben wir auch länger dran.“
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