13. Januar 2013

VON NEGERN UND CHINESENMÄDCHEN

Ich hoffe, Sie sind literarisch gut eingetaucht in den „Strom des Lebens 2013“– um an meinen letzten Blogeintrag in 2012 anzuknüpfen. War es ein sanft dahinziehender Strom? Ein reißender? Oder vielleicht so etwas wie ein Strudel, Mahlstrom, der einen in die Tiefe zieht und nicht mehr loslässt? So ging es mir mit Ulysses, der mich in den Schottischen Highlands begleitet hat.

Bei dieser Re-Lektüre ist mir wieder besonders deutlich geworden, wie unterschiedlich die Wirkung eines Buches ist, je nachdem, in welchem Alter, welcher Lebensphase, mit welchem Erfahrungshintergrund man es liest. Und: welcher aktuelle Zeitgeist inklusive vorherrschender Moral-Vorstellungen gerade herrscht. Auch dieser nimmt Einfluss: bei persönlicher Lektüre ebenso wie bei der professioneller Lektüre von Verlagen und Agenturen.

So fand der Ulysses lange keinen Verlag und wurde zensiert: zu pornografisch. Diese vermeintliche Eigenschaft haftet dem Werk bis heute an und entsprechend irritiert bis enttäuscht sind zeitgenössische Leser*innen, wenn sie vergeblich nach Pornografischem suchen und entsprechende Stellen als harmlos, im besten Falle erotisch empfinden.

Umgekehrt kann es sein, dass im Laufe von Jahrzehnten immer MEHR Anstoß genommen wird an Wörtern, Ausdrücken, Formulierungen, beispielsweise weil sie mittlerweile als politisch unkorrekt oder diskriminierend gelten.

Was tun? Dürfen…sollen…müssen diese Formulierungen nach wie vor gemäß der Originalausgabe gedruckt werden, als authentisches literarisches Zeitdokument? Oder dürfen… sollen…müssen sie angeglichen werden an die aktuell geltenden gesellschaftlichen Maßstäbe?

Diese Fragen wurde in den letzten Tagen heiß diskutiert anlässlich der Ankündigung des Thienemann-Verlags, Otfried Preußlers Kinderbuchklassiker Die kleine Hexe „mit sprachlichen Modernisierungen den aktuellen Lesern leichter zugänglich“ zu machen. Die (im Übrigen farbige!) Neuausgabe wird „geglättet“, diskriminierende Begriffe verschwinden, veralteter Wortschatz wird aktualisiert. Ab sofort werden die Kinder im Buch keine Schuhe mehr wichsen und sich auch nicht mehr als Neger, Chinesenmädchen oder Türke verkleiden. (Außer in den Bibliotheksausgaben – oder wird es kostenlose Umtauschaktionen geben wie bei fehlerhaften Autos?)

(Kinder-)Literatur zu modernisieren, von diskriminierenden oder verfänglichen Begriffen zu säubern oder schlicht zu vereinfachen, ist nichts Neues. Das betrifft beispielsweise Schullektüren von Klassikern, entschärfte Huckleberry Finn-Versionen und natürlich Märchen wie Rotkäppchen, wenn aus der „Dirn’“ plötzlich ein Mädchen wird.

Die Absicht dahinter ist meist pädagogisch-politischer Natur. Was Kindern dabei vorenthalten wird, scheint nicht so wichtig zu sein: beispielsweise die Erweiterung des Wortschatzes oder die Erkenntnis, dass sich auch Sprache ständig ändert. Wo ist die Grenze bei solchen Änderungen und dürfen…können… müssen die Autor*innen das entscheiden? Und wer entscheidet, wenn diese nicht mehr leben?

Lange Zeit hatte sich die Familie Preußler gegen jegliche Veränderungen im Text ausgesprochen. Erst Ende 2012 hat die Tochter Preußlers, die seine Werke verwaltet, zugestimmt. Ja, ihr Vater lebt noch und er wird angeblich auch über jede Änderung letztlich selbst entscheiden.

Dennoch ist in den letzten Tagen ein unerwartet großer shitstorm an Beschimpfungen über dem Verlag ausgeschüttet worden, sodass dieser nun eine öffentliche Erklärung abgegeben hat: „Weil uns die Texte so wichtig sind, glauben wir, dass sie im Laufe der Zeit bedachtsame Bearbeitungen benötigen. Niemand hat Otfried Preußler je Rassismus vorgeworfen. Im Kontext der Entstehungszeit waren die fraglichen Begriffe neutral, aber aus heutiger sind sie es eben nicht mehr. (…) Weil uns die Texte so wichtig sind, glauben wir, dass sie im Laufe der Zeit bedachtsame Bearbeitungen benötigen. Sie würden sonst für Kinder unverständlich und nicht mehr gern gelesen werden. (…)Sprache beeinflusst das Bewusstsein und wo ein diskriminierender Begriff vermieden werden kann, halten wir es für vernünftig ihn wegzulassen.“

Auch andere Bücher von Preußler werden derzeit geprüft. Aber der Verlag hat versichert, dass sich beispielsweise bei Jim Knopf nichts ändern werde. Er „bleibt weiterhin dunkelhäutig und hat seine Pfeife im Mund.“

Hat seine Pfeife im Mund??? Leuchten bei Ihnen da ebenfalls sofort die Warnlampen? Denken wir einfach mal 30 Jahre in eine Zukunft, in der nicht nur Kneipen, Werbung und Spielfilme rauchfrei sein müssen, sondern auch Literatur. Und Kinderliteratur natürlich ganz besonders. Ob Jim Knopf dann wirklich noch Pfeife rauchen darf?

Was ist Ihre Meinung zu diesem Hexen-Prozess?

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