WIR BITTEN UM VERSTÄNDNIS
„Information für ICE (Nummer Sowieso), von München auf der Weiterfahrt nach Berlin. Dieser Zug verspätet sich voraussichtlich um (… kurze Pause…) 50 Minuten. Grund dafür ist eine Signalstörung. Wir bitten um Verständnis.“
Diese Durchsage hat mich vor drei Tagen gegen 14 Uhr auf Gleis 4 am Hauptbahnhof Fulda betroffen. Mit mir warteten eine Menge Freitags-Reisende. Einige davon äußerten sich spontan dazu.
Meiner Erfahrung nach gibt es in einer solchen Situation drei verschiedene Reaktionstypen: die einen ereifern sich in ausholenden und blumigen Worten über die Unpünktlichkeit der Bahn im Allgemeinen. Die Anderen rekapitulieren detailverliebt die Hindernisse ihrer heutige Reise im Besonderen. Und die Dritten stöhnen und seufzen schlicht aber hörbar laut auf.
Ich selbst war zwar ebenfalls nicht gerade begeistert, aber ich stelle mich innerlich immer auf eine mögliche Verspätung ein und überlege vorab, wie ich in einem solchen Fall die Zeit überbrücken werde.
In diesem Fall war klar: die kreppbandverklebte dicke Rolle mit einer Menge beschriebener Flipchart-Blätter entrollen, alle Blätter durchsehen und einige davon fotografieren, um anschließend alle zu entsorgen und somit gepäckmäßig unbelasteter nach Berlin weiterfahren zu können. Die Flipcharts dokumentierten den Verlauf der Bildungswoche zum Thema „Welt des Kreativen Schreibens“, die ich gerade an der Akademie Burg Fürsteneck abgeschlossen hatte. Eine intensive, freudvolle und auch anstrengende Woche lag hinter mir und es war schön, anhand der Flipcharts einige Seminarsituationen zu rekapitulieren.
Hängengeblieben bin ich schließlich bei dem Papier, auf welches ich die drei literarischen Kreativitätstypen notiert hatte, die man unterscheiden kann (wenn man erstens will und sich zweitens die Relativität solcher Typologien bewusst macht): Da gibt es den so genannten episch-fabulierenden Typ, als dessen klassischer Vertreter Thomas Mann gilt. Dann den bildlich-anschaulichen Typ, der an detaillierten Wahrnehmungen interessiert ist, wie beispielseweise Peter Handke. Und schließlich den phonetisch-akustischen Typ, der in erster Linie den Klang und die Besonderheit einzelner Wörter liebt, Ernst Jandl zum Beispiel.
Hängengeblieben bin ich an diesem Plakat deshalb, weil ich plötzlich die große Ähnlichkeit zu den spontanen sprachlichen Äußerungen der Wartenden erkenne: Das bildhafte Ausschmücken… das detaillierte Beschreiben… die akustischen Laute.
Tja, man kann eben nicht aus der eigenen Haut schlüpfen. Egal, in welcher Situation.
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