Mein Newsletter erscheint circa alle sechs Wochen.
Ich informiere Sie über aktuelle Präsenz- und Onlineformate: Workshops, Coaching-Angebote, Schreibgruppen oder die kommende Saisonöffnung meines virtuellen Schreibhotels GOLDEN WORDS.
Herzlich willkommen auf meinem blog. Seit 2010 teile ich hier meine Gedanken, Fragen und Leidenschaften und freue mich über entstehende Dialoge.
09. Oktober 2024
LOSER BITTE INS LICHT
Eigentlich wollte ich im Internet nur etwas über losen Tee in Metalldosen recherchieren, als ich mitten in einem DLF Audiobeitrag über Loser in der Literatur gelandet bin. Autor Dirk Fuhrig erläutert, dass sich „der männliche Versager“ in den letzten Jahren zur Lieblingsfigur deutschsprachiger Romane entwickelt habe.
Männliche Protagonisten also, die scheitern: an sich selbst, an der Gesellschaft, an der Moderne, an Veränderung und Fortschritt, an den Frauen und letztlich am Leben selbst. Oha. Herr Stettler, Hartmut Trössner, Franz und und und. Ich kenne all diese Figuren nicht und habe ihre Romane auf meine Bibliotheksliste gesetzt. Mal sehen.
Loser Figuren interessieren mich tatsächlich, allerdings definiere ich sie anders. weiterlesen
11. Juni 2024
WAS DAS TIER DER WÜSTE LIEBT
Vorgestern war ich wählen, gestern auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung und heute habe ich rund eine halbe Stunde lang mit einer fremden Frau vor einem Veranstaltungsplakat diskutiert. Alle drei Dinge haben eines gemeinsam: es ging immer auch um Freiheit.
„Freiheit wird einem nicht gegeben. Die muss man sich nehmen“, war die künstlerische Überzeugung von Meret Oppenheim, was nicht heißt, dass ihr das immer leicht gefallen ist. Auch die meisten meiner Schreibcoaching-Klient*innen ringen damit, wieviel Freiheit sie sich in ihrem Schreiben nehmen dürfen = schenken wollen, beispielsweise, wenn es um stilistische Experimente geht. Was mich wieder zum Plakat führt, Werbung für das Berliner Philosophie-Festival Ende Juni, weiterlesen
23. Mai 2024
Eine Blume für die unbekannte Autor*in
Die Pfingsttage habe ich in meinem Garten außerhalb Berlins verbracht, eigentlich ein kleines Birkenwaldgrundstück, auf welchem auch jede Menge Blumen blühen. Ich hatte zwei Bücher dabei. Eines von Paul Auster und eines von Alice Munro. Beide sind in diesem Monat Mai gestorben und beide haben mein literarisches Leben seit vielen Jahren bereichert.
Zum Lesen habe ich einen Platz direkt neben den drei Pfingstrosen gewählt und habe deren filigrane Blütenblätter berührt, während ich im Mond über Manhattan und in Liebes Leben geblättert habe.
Am Pfingstmontag, nach einer starken Regennacht, hingen die Köpfe der Pfingstrosen und als ich sie früh am Morgen sah, war mir, weiterlesen
04. Mai 2024
GENRE ODER NICHT GENRE…
… das ist hier die Frage. Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern der Verlage zu erdulden oder, sich waffnend gegen eine See von Leser*innen-Plagen, durch Widerstand sie enden? Sorry, aber dieses Hamlet-Zitat musste einfach sein, denn es verdeutlicht die Qualen schreibender Menschen, die sich entscheiden müssen, welchem Genre ihr Text zuzuordnen ist, obwohl sie das nicht wollen.
Das war auch letztes Wochenende Thema, als ich für die Deutschen Schreibtage der Schule des Schreibens Hamburg vier Workshops geleitet habe, einen davon zum Thema Genre. Dass Zwittertexte schwer verkäuflich sind, ist ein ungeschriebenes Gesetz und doch gibt es glücklicherweise Verlage, die – zumindest ab und zu – dieses Gesetz locker vom Tisch wischen, weiterlesen
10. April 2024
IMMER WIEDER ICH
lautete der Titel der Autobiografie Werkstatt in der Bundesakademie Wolfenbüttel, von der ich gestern nach Berlin zurückgekehrt bin. Rainer Moritz, der das Hamburger Literaturhaus leitet, hat diese Werkstatt durchgeführt. Einfach „nur“ Teilnehmerin zu sein, ist ein seltenes Vergnügen für mich und verdient hier ein paar genussvolle Ausrufezeichen, obwohl man mit Ausrufezeichen in Texten ja vorsichtig sein soll, außer man heißt Florence Hazrat und hat vor kurzem eine rebellische Geschichte über dieses Pathossymbol veröffentlicht!!! (Ein Literaturtipp aus dem Seminar.)
Auf der Hinfahrt bin ich im ICE mit einem jungen Laptop Mann ins Gespräch gekommen, der neben mir saß und unermüdlich einen riesigen Stapel Visitenkarten durchgesehen hat. weiterlesen
29. März 2024
DIE FAMAINDUSTRIE
DIE FAMAINDUSTRIE
Gestern habe ich im Radio gehört, dass Gesundheitsminister Lauterbach weiterhin alles unterehmen wird, um die Famaindustrie nach Deutschland zu locken. Ich begrüße das ausdrücklich, denn die Famaindustrie produziert spekulative Gerüchte, die in Literatur gegossen sind: Märchen. Und Märchen wiederum kommen in der Bibliotherapie zum Einsatz und fördern Heilung und Gesundung.
„Diese Geschichte ist eigentlich gelogen, aber wahr ist sie doch. Denn wahr muss sie sein, sonst könnte man sie ja nicht erzählen.“ lautet die klassische FamaLogik, hier zitiert aus dem Grimm’schen Märchen Hase und Igel, das jedes Jahr auf den Ostertischen der Buchhandlungen liegt.
Zum heutigen Internationalen Frauentag zwei Empfehlungen: erstens Poor Things, den Film von Giorgos Lanthimos, der weibliche Schamlosigkeit auf großartige Weise umgesetzt hat und zweitens Identitti, der Roman von Mithu Sanyal, der mir von einem Workshopteilnehmer empfohlen wurde (Danke, Rudolf!).
Poor Things basiert auf dem Roman des schottischen Künstlers und Schriftstellers Alasdair Gray, der in all seinen Werken Realismus mit Fantasy und Science-Fiction kombiniert. In Poor Things sieht er die Rolle(n) der Frauen entsprechend mit realistischem Blick und hat gleichzeitig genug Fantasy (ich weiß, das ist nicht gleichbedeutend mit Fantasie, aber ich kann hier nicht widerstehen), um am Beispiel seiner Protagonistin Bella Baxter zu zeigen, dass Emanzipation möglich ist. weiterlesen
20. Februar 2024
HISTORY IS…
Meine Welt ist in diesen Tagen voller Geschichte/n. Gestern auf der Berlinale die Weltpremiere von „Das leere Grab“. Der Film von Cece Mlay und Agnes Lisa Wegner blickt aus einer persönlichen tansanischen Perspektive auf die brutale deutsch-koloniale Vergangenheit, die in traumatischen Erinnerungen weiterlebt.
Die eindrücklichen Bilder dieses Films wiederum haben sich mit den Eindrücken der Tagung „Wurzeln in Böhmen“ verbunden, von der ich erst einen Tag zuvor zurückgekommen war. Auf der Tagung hat die Autorin Veronika Kupková Aleida Assmanns Konzept der dialogischen Erinnerung erwähnt. Ein integrativer Ansatz, der die Pluralität der Perspektiven anerkennt und die Vergangenheit aktiv mit der Gegenwart verbindet. Nur so kann Erinnerung auch der Zukunft dienen, weiterlesen
14. Februar 2024
LISTENING TO LIDA
Es ist jetzt zwei Wochen her, seit ich im neu eröffneten Düsseldorfer Kunstpalast einen Art Journaling Workshop geleitet habe und einige Kunstwerke ploppen immer wieder in meinen Gedanken auf.
Grande Écriture (Große Schrift) beispielsweise, ein Werk des venezolanischen Künstlers Jesús Rafael Soto, einem der bedeutendsten Vertreter der kinetischen Kunst und der Optical Art, wie ich jetzt weiß (ich hatte noch nie von ihm gehört). Soto hat von 1962 an eine ganze Écriture/Writing-Serie geschaffen: Große monochrome Bilder, vor denen Drähte und Streifen auf raffinierte Weise gespannt sind, so dass sich hypnotische Effekte ergeben, wenn man sich vor dem Bild bewegt, so als ob man an Riesenhandschriften vorbeilaufen würde. weiterlesen
10. Januar 2024
POLO SPIELEN
Das Jahr ist noch jung, ich zurück in Berlin und Marco Polo vor 700 Jahren gestorben. Sein Bestseller „Die Wunder der Welt“, in welchem er über die 17 Jahre berichtet, in denen er im Auftrag des Kaisers durch China reist, liest sich wie ein kleines Spiegelkabinett des Wunderns und angeblich waren Polos letzte Worte: „Ich habe nicht einmal die Hälfte dessen erzählt, was ich tatsächlich gesehen habe.“
Sinologe und Autor Tilmann Spengler spricht vom Faszinosum der Entdeckungslust und vom „Furor der Neugier“, von dem Marco Polo besessen war. Mit dem, was er uns über China erzählt hat, ist er – wie man heute sagen würde – in eine „narrative Vorleistung“ gegangen, weiterlesen
21. Dezember 2023
FROHE BOTSCHAFTEN
Hier in Berlin Moabit, wo ich wohne, gibt es das Domberger Brot-Werk, das nicht nur die besten Brezeln backt (nach denen ich als Süddeutsche in dieser Stadt lange gesucht habe), sondern außerdem eine humorvolle Postkarte verteilt, auf der Folgendes steht:
Hinweis: Dieser Haushalt belegt die Nutzung des Wortes „lecker“ mit einer Buße von 5 Euro. Die Buße ist sofort fällig. Erlaubte Ersatzworte sind z.B.: „fein“, „köstlich“, „großartig“, „gut“ und in besonderen Fällen auch „saugut“. Der Haushaltsvorstand.
Ich finde, das passt wunderbar zu Weihnachten.
Statt FROH oder FRÖHLICH oder BESINNLICH – alles Wörter, die unter „lecker“-Verdacht stehen, wünscht Ihnen der Haushaltsvorstand der Literaturschneiderei …. weiterlesen
16. Dezember 2023
BÜHNENPRÄSENZ
Seit Annie Ernaux letztes Jahr den Literatur Nobelpreis erhalten hat, bespreche ich immer wieder ihre Bücher. Vor wenigen Tagen ist ein umfangreiches Seminar zu Ernauxs Literatur zu Ende gegangen und nun ist mir klar geworden, warum sich viele Leser*innen mit ihren Büchern so schwertun.
Beispielsweise wenn Ernaux in „Erinnerung eines Mädchens“ von sexuellen Übergriffen erzählt, die sie in den 50er Jahren als 17jährige erfahren hat und über die sie nach mehreren vergeblichen Anläufen erst als 74jährige schreiben konnte, um – wiederum Jahre später – schließlich explizit von Vergewaltigung zu sprechen.
Zusätzlich zur Tatsache, dass Ernauxs Themen für viele Leser*innen zu intim sind, was häufig eine abwertende Schutzreaktion provoziert, weiterlesen
01. Dezember 2023
ERROR 451
Als ich vor wenigen Tagen in Berlin in den ICE 577 Richtung Stuttgart gestiegen bin, wusste ich noch nicht, dass ich in diesem Zug circa zwei Stunden später spontan einen mir unbekannten Mann durch mehrere Wagen verfolgen würde (drum ist das Foto unscharf).
Einen Mann, der an meinem Sitz vorbeigehuscht ist und dessen Art, seine Lektüre spazieren zu führen, mich quasi zum Verfolgen gezwungen hat. Wie praktisch: man hat die Hände frei, das Buch, das man gerade liest, immer bei sich (vorausgesetzt, man trägt einen Gürtel) und man muss diesen Gürtel passend zum jeweiligen B(a)uchumfang einfach nur enger oder weiter schnallen. Wie ein Baby, das man mit einem Tuch eng auf den eigenen Rücken bindet. weiterlesen
15. November 2023
BESCHAULISCH
Heute morgen bin ich sehr früh aufgewacht und habe mir als erstes in aller Ruhe das so genannte Daily Calm auf meiner Achtsamkeitsapp angehört, das sind rund 10minütige tägliche Inspirationen zu allen möglichen Aspekten von Mindfulness.
Heute spricht Tamara Levitt von Zufriedenheit, die in Einfachheit gefunden werden kann. Sie erzählt von Henry David Thoreaux, der Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Jahre lang in einer selbstgebauten Blockhütte am Walden Pond in den Wäldern von Massachusetts lebte, um einen alternativen Lebensstil zu finden. Seine Tagebuchaufzeichnungen hat er anschließend für sein berühmt gewordenes Buch Walden bearbeitet.
„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte,weiterlesen
31. Oktober 2023
STARBUCK
In dieser Woche hat ARTE mehrmals John Hustons Moby Dick Verfilmung gezeigt. Ich habe mir diese beeindruckende schwarz-weiß Verfilmung von 1956, in der Gregory Peck Kapitän Ahab spielt und auch Orson Welles einen Kurzauftritt als Pfarrer hat, gleich zweimal angesehen und beim zweiten Mal parallel alles Mögliche recherchiert. Zunächst wollte ich lediglich herausfinden, ob die Figur des besonnenen ersten Offiziers namens Starbuck, der als einziger dem wahnsinnigen Treiben Ahabs Widerstand entgegensetzt, irgendetwas mit der größten Kaffeehauskette der Welt zu tun hat, deren Logo mit einer Sirene ja ebenfalls Meeresbezug hat. Und tatsächlich: die Gründer bezogen sich auf Melvilles Figur. Interessant.
Dann fand ich heraus, dass Melville selbst mehrmals auf Walfangschiffen angeheuert hatte und ich kombiniere, weiterlesen
12. Oktober 2023
MEER
Dass der Norweger Jon Fosse gerade den Literaturnobelpreis erhalten hat, freut mich außerordentlich, denn ich habe diesen Sommer sechs Wochen in Norwegen verbracht.
So erkenne ich in den TV-Interviews mit Fosse im Hintergrund die Landschaften, durch die ich gefahren bin, die Hardanger Hochebene, die Brücke, die sich bei Bergen über einen Fjord spannt und natürlich das Meer, das zum Titel eines der wichtigsten Theaterstücke des angeblichen Beckett-Nachfolgers wurde und das zu lesen ich mir vorgenommen habe und ich höre seine ruhige, klare Art zu sprechen und kann spüren, dass zwischen seinen Sätzen das eigentlich Interessante schwingt, was sich mit der Begründung der Nobelpreis Jury verbindet, weiterlesen
17. Juni 2023
VOM GETÜMMEL FREI
Heute vor einer Woche habe ich in der Rudolf Steiner Schule in Hamburg ein so genanntes Zwölftklassspiel gesehen, das in Waldorf Schulen den Eintritt ins Erwachsensein symbolisiert und in welchem sich alle Schüler*innen intensiv einbringen.
Gezeigt wurde die Komödie „Wie es Euch gefällt“ und ich dachte, wie beeindruckend doch Shakespeares Sprache ist, sogar im Deutschen. Es gibt ja ebenso beeindruckende Inszenierungen dieser Komödie von Gustaf Gründgens über Peter Stein bis hin zu Katharina Thalbach.
Mein Vorhaben, endlich einmal wieder etwas von ihm zu lesen, hatte ich im Getümmel dieser Arbeitswoche noch nicht in die Tat umgesetzt, als ich heute ein Päckchen auspacke, das mir eine Seminarteilnehmerin geschickt hat. weiterlesen
26. Mai 2023
ES LEBE CROWDFUNDING!
Heute Vormittag war ich wie jeden Freitag bei der Wassergymnastik in einem Fitness Club. Als ich dort angekommen bin, hat ein mir noch unbekannter junger Mann an der Rezeption intensiv in einem dicken Buch gelesen.
Und weil er dies immer noch tat, als ich rund 1,5 Stunden später gehen wollte, habe ich ihn nicht nur gefragt, wie er heißt, sondern auch, was er liest. Er hat gleich begeistert von diesem Roman erzählt, den ihm sein Buchhändler empfohlen habe, weil er gerne Science-Fiction liest, es sei aber eigentlich keine Science-Fiction, auch keine Fantasy, eher etwas Realistisches in einem erfundenen Universum, aber dann wiederum auch nicht wirklich…
Gestern war European Song Contest. Teya & Salena haben Österreich mit dem Pop-Song“ Who the hell is Edgar?“ vertreten und davon gesungen, dass sie von einem lyrischen Geist besessen sind, der ihren Songtext geschrieben hat.
Während der Song lief, habe ich an das Edgar Allan Poe Museum in Richmond, Virginia gedacht, das ich im Sommer 2019 besucht habe. Ich weiß noch, dass ich stundenlang dort geblieben bin, um auf Poes Schreibtisch, Bett, Kamm und Taschenmesser zu starren, um in der Bibliothek durch Hunderte von internationalen Büchern mit Poe Bezug zu blättern und um immer wieder die schwarzen Katzen im Innengarten zu streicheln, die dort traditionell leben. weiterlesen
01. Mai 2023
FREE BIRD
Während ich diesen Post schreibe, findet in Sheffield das Finale der Snooker Weltmeisterschaft statt. Der vierfache Weltmeister und Weltranglistenzweiter Marc Selby aus England spielt gegen den Belgier Luca Brecel, die Weltranglisten Nummer zehn.
Wann immer möglich verfolge ich diese Weltmeisterschaft auf Eurosport. Und während ich über die verschiedenen Spielerpersönlichkeiten, Strategien und Herausforderungen nachdenke, ploppen vor meinem inneren Auge Analogien zum Schreiben von Geschichten auf. Im Snooker besteht ein Game aus verschiedenen Sessions (Spieleinheiten), die wiederum aus mehreren so genannten Frames, einzelnen Spielen, bestehen. Ein Game ist also wie eine Geschichte, deren einzelnen Sessions = Kapitel in einzelne Frames = Szenen aufgeteilt ist. Ein Frame entspricht dem Rahmen, weiterlesen
12. Februar 2023
STIMMZETTEL’S TRAUM
Aufgrund der heutigen Wiederholungswahl in Berlin ist mir wieder einmal bewusst geworden, dass auch ich Opfer einer Déformation professionelle bin und somit die Neigung habe, meine berufsbedingte Perspektive über ihren Geltungsbereich hinaus anzuwenden. Wollen Sie wissen warum? Gern.
Auf einem der zugesandten Umschläge stand: „In diesen Stimmzettelumschlag nur alle Stimmzettel einlegen, sodann den Stimmzettelumschlag zukleben.“ Tatsächlich war das Wort „alle“ fett gedruckt. Das hat mich irritiert, denn wenn man in diesen Umschlag nur alle Stimmzettel einlegen soll, welche gäbe es denn sonst noch, die man nicht hineinlegen darf? Müsste es nicht korrekterweise heißen: „In diesen Stimmzettelumschlag ausschließlich alle Stimmzettel einlegen.“
Vor einigen Tagen habe ich unbewusst zu einem Toilettenpapier gegriffen, das ich noch nie zuvor gekauft hatte. Happy End heißt es, was ich werbemäßig ziemlich raffiniert und witzig finde.
Und weil dieses Jahr zu Ende geht, habe ich mehrmals täglich ausgegebenem Anlass über das Phänomen des Happy End nachgedacht – in Filmen, in Romanen und Märchen. Immer geht es um eine Geschichte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr weitererzählt wird. Einem Zeitpunkt, der für die Protagonist*innen als glücklich angesehen wird, unabhängig davon, wie es danach weiter geht. „Und darum wird beim Happy End im Film jewöhnlich abjeblendt.“ hat es Kurt Tucholsky in seinem Gedicht weiterlesen
03. Juli 2022
100% VIELFALT
Dies ist der letzte Blogpost vor meiner Sommerpause. Ich schreibe ihn aus Köln und im Beat des Christopher Street Day, dem ersten seit Corona. Es ist wunderbar, in dieser Vielfalt zu baden und sich mit all diesen wesentlichen Werten zu verbinden: Liebe, Respekt, Freiheit, Toleranz, Gleichzeit, Stolz.
Werte, die sich 1:1 auf das Schreiben übertragen lassen: Liebe zu dem, was wir zum Ausdruck bringen wollen. Respekt vor den Herausforderungen, die uns dabei begegnen werden. Freiheit im individuellen Ausdruck. Toleranz Andersschreibenden gegenüber. Gleichheit aller Genres und Stile. Und schließlich Stolz, dass wir unsere Kreativität leben.
Es lebe und schreibe die Vielfalt! Das wünsche ich Ihnen für die kommenden Wochen. weiterlesen
26. Juni 2022
WELCOME TO A NEW WORD
An diesem Wochenende finden Deutsche Sport-Meisterschaften in Berlin statt. Ein Multisportevent, bei dem es um 190 Titel in 14 Sportarten geht, ausgetragen an neun Standorten wie beispielsweise Strandbad Wannsee, Brandenburger Tor und Olympiapark. All das läuft unter dem Label DIE FINALS.
Frage: wie haben Sie diesen Titel beim Lesen gerade ausgesprochen? Fainls? Also ganz klassisch als englisches Wort? Oder so, wie es offiziell ausgesprochen wird: Finahls? Mit Betonung auf „a“, als wäre es ein deutsches Wort?
Ich habe gerade nachgesehen, es IST ein deutsches Wort. Im Duden steht: Plural: die Finale, im Sport auch: Finals. Wussten Sie das? Ich nicht. Vermutlich bin ich einfach zu wenig sportaffin, weiterlesen
17. Juni 2022
BLOOMSDAY
Haben Sie schon einmal ein Apotheken-Schaufenster gesehen, in welchem Romane Teil der Dekoration waren? Ich zum ersten Mal vor kurzem in einer Apotheke auf der Deutzer Freiheit, einer Straße in Köln-Deutz, wo ich momentan für einige Wochen arbeite.
Die Bücher waren zusammen mit einem Beruhigungsmedikament ausgestellt und sie sahen erstaunlicherweise gelesen aus. Das fand ich interessant und ich habe erfahren, dass es sich um die privaten Bücher der Chefin handelt und „Die Geschichte der Bienen“ ihr aktuelles Lieblingsbuch ist. Sie schwärmte davon, wie besonders sie es fände, dass das Buch nicht nur in drei verschiedenen Ländern, sondern auch in drei verschiedenen Jahren spiele, eines davon sogar in der Zukunft. weiterlesen
15. Mai 2022
RAUMGEFÜHL
Seit gut einer Woche bin ich zurück aus der Akademie Burg Fürsteneck in Hessen, wo ich eine Bildungswoche Kreatives Schreiben geleitet habe. Immer wieder stand dabei das Thema Raum im Raum: der Raum unserer Fantasie, der Gedankenraum zwischen den Zeilen, die Wirkung des Raums, in welchem wir schreiben.
Meine Rückreise beginnt am kleinen Bahnhof Hünfeld, wo an der Wand des Bahnhofsgebäudes in großen Lettern steht: „Wer den Raum fühlen will, muss jeden festen Punkt aufgeben.“ Ja, denke ich: das trifft auch auf kreatives Schreiben zu. Um zu fühlen, wie groß unser innerer Schreibraum ist, müssen wir unsere festen Stand- und Schreibpunkte aufgeben. Das ist beispielsweise unsere scheinbare Sicherheit darüber, weiterlesen
14. April 2022
MURMELN
Vor kurzem habe ich einige Tage im Hamburger Hotel Reichshof gewohnt. Hier bringt das Schauspielhaus in langer Tradition seine Gäste unter. So hatte ich das Vergnügen, mehrere Tage gemeinsam mit der Schauspielerin Eva Mattes im selben wunderschönen Art Deco Raum zu frühstücken.
Ich kenne jetzt nicht nur ihre Frühstücksvorlieben (Müsli, Tee, Kaffee mit Wasser verlängert und am Wochenende ein Glas Sekt dazu), sondern konnte sehen, wie sie – immer am selben kleinen Tisch sitzend – in einem A5 großen Schreibheft gelesen hat, dessen enge Handschrift mit verschiedenfarbigen Markierungen versehen war. Dabei hat sie häufig vor sich hingemurmelt. Dieses Murmeln als spezifische Ausdrucksform geht mir seither nicht mehr aus dem Sinn. weiterlesen
13. März 2022
PLANET WERMUT
Es beschämt mich immer wieder, wie wenig ich über die Literatur mancher Länder weiß. Rechercheanlass, um dies zu ändern, war in der Vergangenheit meist ein TV-Beitrag oder literarischer Preis, eine Rezension oder Verfilmung. Noch nie war ein Krieg der Anlass.
Bis vor wenigen Tagen wusste ich nichts, aber auch gar nichts über ukrainische Literatur, begann zu recherchieren und bin immer wieder bei einer Autorin gelandet, die auch Dichterin und Essayistin ist, promovierte Philosophin, streitbare Feministin und politische Aktivistin. Eine Autorin, die Gastprofessorin an mehreren US-amerikanischen Universitäten war sowie jahrelang Vizepräsidentin des ukrainischen PEN-Zentrums. Vor wenigen Tagen hat sie anlässlich des Internationalen Frauentags vor dem Europaparlament gesprochen: Oksana Sabuschko, weiterlesen
30. Januar 2022
POP UP 2022
Einen blogpost zum neuen Jahr hatte ich eigentlich für den 27. Dezember geplant. Anlass dafür war das Wort „Wellenbrecher“, das wenige Tage zuvor von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt wurde. Ich musste sofort an das Zitat von Achtsamkeitstrainer Jon Kabat-Zinn denken: „Du kannst die Wellen nicht aufhalten, aber du kannst lernen, zu surfen.“
Von diesem Zitat aus waren meine Assoziationen nach Hawaii geflogen, dem Wellenreiten-Paradies. Und von da zu Agatha Christie, der Queen of Crime, die im Rahmen ihrer Weltreise, die sie in den 1920er Jahren gemeinsam mit ihrem Mann machte, einen Monat auf Hawaii lebte. Dort lernte sie am Waikiki Strand das Surfen und war die erste Britin, weiterlesen
19. November 2021
ÖFFÖFF
Sie wundern sich vielleicht: so schnell schon wieder ein neuer Blogpost? Muss sein. Und Sie werden auch gleich wissen warum. Urmel ist schuld.
Oder Max Kruse, der heute vor 100 Jahren geboren wurde. Über ihn habe ich zum Frühstück einen Beitrag auf Deutschlandfunk gehört. Was ich nicht wusste: er ist der Sohn der berühmten Puppenmacherin Käthe Kruse (eine offensichtlich sehr ambivalente Mutter-Sohn-Beziehung) und sein 15jähriger Sohn ist 1968 bei einem Fahrradunfall ums Leben gekommen, als Kruse gerade an seinem Kinderbuchklassiker Urmel geschrieben hatte.
Es berührt mich immer wieder aufs Neue, wie häufig hinter der Maske scheinbar harmlos-humorvoller Geschichten und Figuren biografischer Schmerz verborgen ist, weiterlesen
14. November 2021
DER GRÖSSTE HUNGER DER WELT
Letztes Wochenende habe ich an der Ev. Akademie Meißen einen Wochenendworkshop zum Thema „Leben wagen“ geleitet. Sonntagabend auf dem Rückweg mit dem Zug nach Berlin: ich habe kurzen Aufenthalt in Dresden, bestelle mir bei Mai Mai im Bahnhof ein Tofu Chili-Basilikum Gericht und stelle mich zum Essen an einen hohen Bistrotisch. Ein paar Minuten später beginnt eine Frau, die sich ebenfalls etwas zu Essen geholt hat, ein Gespräch.
„Ich war im Biosphärenreservat in der Oberlausitz. Kennen Sie das?“
„Nein, leider nicht. War es schön?“
Sie nickt. „Die haben eine Sonderausstellung im Haus der 1000 Teiche. Karpfen.“
Vor drei Tagen war Wahlsonntag und wenige Tage zuvor hatte ich in diesem Zusammenhang besonderen Besuch. Ich habe das Wahlkampagnen-Angebot des Grünenpolitikers Taylan Kurt angenommen, ihn zu einem persönlichen Gespräch in die eigene Wohnung einzuladen – zu Kaffee und von ihm mitgebrachten Baklava.
Wir haben uns eineinhalb Stunden über die Probleme im Kiez, über Wünsche und Zukunftsprojekte unterhalten. Und natürlich habe ich ihn auch gefragt, ob es Autor*innen, Bücher oder literarische Figuren gibt, denen er sich besonders verbunden fühlt. Nicht direkt, hat er gesagt, erzählte aber von seinem Großvater, der für ihn ein echtes Vorbild sei und der, hätte er einen anderen Bildungshintergrund gehabt, mit großer Wahrscheinlichkeit Schriftsteller geworden wäre. weiterlesen
27. August 2021
DIE EXTERNISTEN
Diesen Blogpost schreibe ich mit Diktierfunktion und fremder Hilfe. Der Grund: Ich bin vor kurzem gestürzt, auf meinen Ellenbogen gefallen und trage jetzt einen Gips.
Als ich in der Notfallambulanz das Waldkrankenhauses hier in Berlin nach rund 7 Stunden kurz vor Mitternacht schließlich in einen weiteren Flur geschickt werde, um auf ein CT zu warten, fällt mein Blick auf eine Mineralwasserflasche. “Externistenquelle“ steht auf dem Etikett.
Externisten? Natürlich kenne ich Internisten, aber von Externisten hatte ich noch nie gehört. Wenn sich Internist*innen um innere Krankheiten kümmern, um welche externen Krankheiten kümmern sich dann Externist*innen? Und wie interessant: ein Mineralwasser für eine bestimmte Berufsgruppe. weiterlesen
03. August 2021
DAS EINFINGERSYSTEM
Vorgestern habe ich in ttt Titel Thesen Temperamente einen Beitrag über Zeruya Shalev gesehen, die über ihren neuen Roman „Schicksal“ gesprochen hat.
Shalev, die in Deutschland vor rund 20 Jahren mit „Liebesleben“ bekannt geworden ist, erzählt, dass sie sechs Jahre an diesem Roman gearbeitet habe, zum Teil bis zu 14 Stunden am Tag.
„Jedes Buch hat seine Forderungen“, sagt sie, „aber keines hat mich so gefordert wie dieses. Ich hatte oft das Gefühl, ich wäre seine Bedienstete, müsste tun, was es mir sagt. Das Buch hat mich lange wirklich beherrscht, ich musste es erst verstehen.“
Dies liegt vor allem am besonders engen autobiografischen Hintergrund. weiterlesen
19. Juli 2022
NO MAD LAND
Vor wenigen Tagen habe ich im Kino Nomadland gesehen. Der Film von Chloé Zhao, der in diesem Jahr drei Oscars gewonnen hat und für weitere drei nominiert war, ist ein Roadmovie.
Wir begleiten Fern, eine Frau Mitte 60, die Mann, Job und ihren Heimatort verloren hat, fortan in ihrem Van lebt und sich Richtung Westen aufmacht, um Arbeit zu finden. Zhao ist in Vorbereitung für den Film lange durch die USA gereist und hat Van People interviewt und eine der Besonderheiten des Films ist es, dass einige dieser Menschen im Film sich selbst spielen. Ich muss an eine meiner USA Reisen denken, die Überführung eines fremden Autos und Durchquerung der USA von New York Richtung Westen bis nach San Francisco. weiterlesen
20. Juni 2021
TRÄUMEN LOHNT SICH
Männerfußball EM gestern. Portugal gegen Deutschland 2:4. Star of the match: Robin Gosens.
Im anschließenden ARD Gespräch mit Ex-Nationalspieler Bastian Schweinsteiger erwähnt Moderatorin Jessy Welmer, dass Gosens gerade seine Autobiografie „Träumen lohnt sich – Mein etwas anderer Weg zum Fußballprofi“ veröffentlicht hat und Schweinsteiger ergänzt, Gosens könne „gern noch ein paar Bücher mehr schreiben.“
Fürs Bücherschreiben braucht man bekanntermaßen jede Menge Motivation. Und auch Vorbilder können nicht schaden. Vorbilder mit Herz und Leidenschaft, dynamisch und zielstrebig. Alles Eigenschaften, die Gosens attestiert werden.
So lag ich heute Nacht eine Weile wach und habe gerechnet: wenn von den 20 Millionen Menschen, die in Deutschland gestern das Spiel im TV verfolgt haben (von den Menschen im Stadion mal ganz abgesehen) nur jede*r Tausendste dazu motiviert wird, weiterlesen
19. Mai 2021
LITTLE MUTTERSCHAF
Ich hatte gar nicht vor, heute einen Blogpost zu schreiben. Und erst recht keinen, dessen Anlass schon wieder Geburtstage sind und es außerdem schon wieder um Ikonen geht.
Aber ich tu’s trotzdem. Denn ich stelle mir schon den ganzen Tag vor, dass die beiden heute hier bei mir im fiktionalen Moabiter Salon auf dem Balkon im fünften Stock sitzen: Malcom X und Rahel Varnhagen. Beide haben sie heute Geburtstag und Rahels berühmter literarischer Salon am Gendarmenplatz ist Luftlinie nur circa 4 Kilometer entfernt.
Auf den ersten Blick könnten sie unterschiedlicher nicht sein, aber auf den zweiten haben sie einiges gemeinsam: beide kämpfen sie für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, weiterlesen
09. Mai 2021
LITERARISCHE FLUGBLÄTTER
„Steh zu den Dingen, an die du glaubst. Auch, wenn du alleine dort stehst.“ notierte Sophie Scholl in ihr Tagebuch. Heute vor 100 Jahren wurde sie geboren.
Sie geht mir in diesen Tagen natürlich besonders durch den Kopf und ich frage mich beispielsweise, ob ich in meinem Leben couragiert und mutig genug bin.
„Steh zu den Dingen, an die du glaubst. Auch, wenn du alleine dort stehst.“ Das gilt natürlich auch fürs Schreiben.
„Schreib die Dinge, an die du glaubst. Auch, wenn du alleine dort schreibst.“ Formuliere ich um. Und das ist tatsächlich meine Überzeugung. weiterlesen
02. Mai 2021
DELETE / INVENT
Zunächst wollte ich in diesem blogpost vor allem Danke! sagen. Allen, die ihre geschlüpften Worteier und Neuentdeckungen mit mir geteilt haben. Von Frangst bis Clusterfuck. Danke!
Dann ist Prinz Philip gestorben. Und als ich auf seinem Sarg den Brief der Queen an ihn gesehen habe (welch erstaunliche Parallelität mit Prinz Harrys Brief auf dem Sarg seiner Mutter Lady Diana), dachte ich: meine Güte, welchen Namen schreibt man auf solch einen Brief, den die ganze Welt sehen kann? Sicherlich nicht den Kosenamen, den man ausschließlich ins Ohr des geliebten Menschen geflüstert hat. Und schon war ich beim Wortschlüpf-Aspekt Kosenamen.
Philips Kosename für die Queen war angeblich Cabbage und Sausage. weiterlesen
03. April 2021 Ostersamstag
IT’S A WORD! WENN AUS EIERN WÖRTER SCHLÜPFEN
Als Elvis 1956 unter großem öffentlichen Interesse seine Polio Impfung erhalten hat, gab es noch keine Selfies. Würde er heute coronageimpft werden, würde er vermutlich ein vaccine selfie, ein so genanntes vaccie, auf Instagram posten.
VACCIE ist das erste von zwei Wörtern, die ich in den letzten Tagen zum ersten Mal gehört habe. Das zweite ist MÜTEND, die Bezeichnung für den coronabezogenen Gefühlszustand aus Wut und Müdigkeit. Beide Wortküken sind erst vor kurzem im Medien-Freigehege geschlüpft und piepsen mehr oder weniger aufgeregt herum.
Abgesehen davon, dass es mich grundsätzlich interessiert, wann und auf welche Weise neue Wörter entstehen, beschäftigt mich speziell das zweite Küken namens Mütend und die Frage, weiterlesen
28. Februar 2021
ADAM AUF DEM MARS
Vor rund zwei Wochen ist der Rover „Perseverance“ auf dem Mars gelandet und hat erste Bilder auf die Erde geschickt.
Seit da begleitet mich diese Marslandschaft, die aussieht wie ein spektakuläres Filmset. Und zwar eines, das ausgedacht ist von einem der innovativsten und einflussreichsten Production Designer unserer Zeit, der mit seinen Sets unter anderem zwei Oscars gewonnen hat: Ken Adam.
Adam (eigentlich Klaus Hugo Adam) verbrachte seine Kindheit in Berlin, stellte Büsten von Goethe und Schiller her und wanderte 1934 gemeinsam mit seiner Familie nach Großbritannien aus. Stark durch den deutschen expressionistischen Film geprägt entwickelte er seine Design-Philosophie des „bigger than life“ und wird anlässlich seines 100sten Geburtstags in diesen Tagen an vielen Orten der Welt gefeiert. weiterlesen
24. Januar 2021
BIS HINAUF ZUR iCLOUD: THE HILL WE CLIMB
Drei Tage und 20 Stunden ist es nun her, seit die 22-jährige Amanda Gorman im Rahmen der Inauguration Joe Bidens ihr Gedicht „The hill we climb“ als spoken-word Performance präsentiert und auch mich begeistert hat.
Gorman ist Lyrikerin, Autorin, Aktivistin und seit drei Jahren National Youth Poet Laureate.
Sie ist die sechste und bis dato jüngste Inaugural Poet und sowohl in ihrer Botschaft als auch in ihrer Vortragsweise bezieht sie sich auf May Angelou, deren Gedicht für Bill Clinton ebenfalls um die Themen Wandel und Verantwortung kreisten. Als Hommage an Angelous berühmte Memoiren „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ trug Gorman außerdem einen Ring mit einem Vogel im Käfig. weiterlesen
16. Januar 2021
SIGNATURE DAIQUIRI 2021
In München wird derzeit die Netflix Produktion Munich gedreht, in der das historische Münchner Abkommen von 1938 im Mittelpunkt steht.
Über einen Mailverteiler hat mich die Anfrage erreicht, dass ein Handdouble für Jeremy Irons gesucht wird. Irons spielt Neville Chamberlain, einen der Unterzeichner des Vertrags. In einer Close-Up Szene soll Chamberlains Unterschrift so authentisch wie möglich gezeigt werden.
Seit ich das gelesen habe, denke ich über das Phänomen der Unterschrift nach. Darüber, wie sich unsere Signatur im Laufe unseres Lebens immer wieder verändert und wie sie unsere Persönlichkeit zum Ausdruck bringt. Oder bringen will. Oder soll.
Und darüber, dass diese Signatur unsere aktuelle Persönlichkeit in manchen Lebensphasen authentisch widerspiegelt und wir ihr zu anderen Zeiten im Grunde bereits entwachsen sind. weiterlesen
28. Dezember 2020
WAS VOM JAHRE ÜBRIG BLIEB
Hier in Berlin gibt es Mülleimer, die Geschichten erzählen.
Geschichten über das, was sich im Laufe des Tages in ihnen angesammelt hat. Das, was übrig geblieben ist.
Der Roman „Was vom Tage übrig blieb“ des Nobelpreisträgers Kazuo Ishiguro erzählt ebenfalls eine Geschichte. Die des englischen Butlers Stevens, der während einer Reise im Jahr 1956 sein Leben rückblickend reflektiert.
Für mich liegt das Besondere dieses Romans genau in dieser klugen und vielschichtig konstruierten Erzählperspektive, aus der unsere menschliche Neigung und Notwendigkeit deutlich wird, biografische Ereignisse und Erfahrungen in ein höchst subjektives Narrativ zu verwandeln. Und die damit verbundene Auseinandersetzung mit unseren Sehnsüchten, weiterlesen
14. Dezember 2020
P.P.S.: WRITING IS LIKE SPYING
Dies ist ein P.P.S. zu meinem James Bond blogpost vor zwei Tagen.
Das MUSS einfach sein, denn heute wurde bekannt, dass – ebenfalls vor zwei Tagen – John le Carré, der wohl berühmteste Agentenroman-Autor gestorben ist.
Im echten Leben hieß le Carré David Cornwell, war wie Bond MI6 Agent, konnte perfekt Deutsch, hat in Bonn als Nachrichtenoffizier in der britischen Botschaft gearbeitet, Deutschland immer als „heimatlich“ empfunden und hier auch seine ersten Romane geschrieben. Ein Pseudonym musste er deshalb annehmen, weil MI6 Angehörigen keine Buchveröffentlichungen unter ihrem richtigen Namen erlaubt waren.
Le Carrés Romane sind ein gutes Beispiel dafür, dass so genannte Genreliteratur durchaus literarisch anspruchsvoll sein kann und mit Figuren ausgestattet, weiterlesen
12. Dezember 2020
JAMES BOND MIT MUND-NASEN-SCHUTZ oder DIE ROMAN-MASKE
Achtung! Dies ist ein langer BLOG post. Die Assoziations-Pferde sind nämlich mit mir durchgegangen.
Begonnen hat es vor drei Tagen, als ich seit langer Zeit zum ersten Mal wieder den James Bond „Man lebt nur zweimal“ gesehen habe. In diesem Film gibt es eine Szene, in der Bond zur Tarnung Hut und Gesichtsmaske des Mannes aufsetzt, den er gerade außer Gefecht gesetzt hat. In dieser Szene wurde Bond quasi ins Corona-Jetzt katapultiert und ich dachte: so sieht er also mit Mund-Nasen-Schutz aus.
You only live twice spielt in Japan und als ich selbst vor dreizehn Jahren dort war, waren für mich die Japaner*innen, weiterlesen
29. November 2020
I AM BECAUSE MY LITTLE DOG KNOWS ME
Was wäre, wenn jeder Satz, den wir sprechen wollen, ganz automatisch in eine Melodie kodiert werden würde? Eine Melodie, die auf einem Algorithmus basiert und vom Gegenüber ganz selbstverständlich dekodiert werden kann. Kommunikation in Melodien statt in Worten.
Gestern bin ich auf Deutschlandfunk zufällig über die Synthesizer Künstlerin und Komponistin Liz Kosack gestolpert, die mit solchen Schriftsystemen und Formen kreativer Kommunikation experimentiert. In diesem Zusammenhang hat sie auch von Hildegard von Bingen, der ersten Komponistin der Musikgeschichte, erzählt.
Kosack, die auf den Tag genau 804 Jahre nach Hildegards Tod geboren wurde, beschreibt, wie Hildegard von Bingen in ihrem kreativen Schaffen vorging: sie war davon überzeugt, weiterlesen
07. November 2020
A NEW PAGE FOR AMERICA
Soeben haben es die großen TV-Sender Amerikas verkündet: Joe Biden ist der 46. Präsident der USA. Und Hilary Clinton hat sofort reagiert und getwittert, dies sei „a new page for america“.
Ich blättere die vielen pages dieses „amerikanischen Wahlthrillers“ zurück. So hat das Handelsblatt am 4. November in seinem morning briefing die Wahl bezeichnet und darin unter anderem geschrieben, Biden sei nicht „der Anti-Held der demokratischen Stammklientel“.
Ich fand es ungeheuer spannend, wie in diesem Thriller die klassische Zuordnung von Held und Antiheld, von Protagonist und Antagonist durcheinander gewirbelt wurde. So kann ich Präsident Trump als typischen Protagonisten sehen, der mit seinem Handeln im Mittelpunkt steht und dessen Antagonist Biden alles daran setzt, weiterlesen
25. Oktober 2020
LOST
Seit ein paar Tagen steht es fest: das Jugendwort des Jahres 2020 heißt „lost“.
Mehr als 1 Million Jugendliche haben sich an der Wahl beteiligt und diesen Begriff gewählt, der für ahnungsloses und unsicheres Handeln steht. „Lost“ hat sich mit knapp der Hälfte aller Stimmen durchgesetzt gegen „cringe“ (etwas Peinliches und Unangenehmes) und „wyld/wild“ (etwas Krasses und Besonderes).
Vielleicht haben Sie wie ich das Gefühl, dass dieses Wort unter anderem die Unsicherheit auf den Punkt bringt, die die junge Generation speziell in der Coronazeit spürt und mit der sie häufig agiert.
Und ich denke an die Jugendlichen, die während und nach dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen sind und von der Schriftstellerin Gertrude Stein pauschal als „lost generation“ weiterlesen
11. Oktober 2020
GLÜCK
Vor wenigen Jahren habe ich eine Workshop-Reihe zu Literaturnobelpreisträgerinnen geleitet.
Damals gab es in der gesamten Nobelpreis-Geschichte lediglich 15 Frauen (etwa 10%). In diesem Jahr ist eine weitere dazu gekommen: die 77jährige US-Amerikanerin Louise GLÜCK hat für ihre „unverwechselbare poetische Stimme“ den Nobelpreis erhalten.
Wie wunderbar, dass damit – selten genug – die Gattung Lyrik geehrt wird.
Von Louise Glück, die 1993 bereits den Pulitzer-Preis erhalten hat, wurden bisher lediglich zwei Gedichtbände ins Deutsche übersetzt und diese sind seit längerem nur noch antiquarisch erhältlich. Übrigens wieder das Phänomen der (Nicht-)Zugänglichkeit von Büchern und die Auswirkung auf den Wert, den man diesen beimisst – weiterlesen
27. September 2020
C. (VERSPROCHEN: ES IST NICHT DIESES „C“-WORT)
Vorgestern bin ich mit einem Traumbild aufgewacht: ich rannte atemlos einen unendlich langen Weg entlang und hielt in meinen Armen ein riesengroßes schweres Buch mit Ledereinband, eine Art Bibel.
Ich wusste, dass dieses Buch verletzt worden war, denn seine Ecken waren erschreckend aufgeschrabbt und die Scharniere lose und nicht mehr funktionsfähig.
Beim Aufwachen war mir sofort klar, dass dieses Traumbild in enger Verbindung steht mit Fragen, die mich momentan umtreiben. Fragen nach dem Wert, den wir Büchern beimessen. Und den bewussten und unbewussten Kriterien, die wir dabei anwenden.
Zwei TV-Beiträge haben mich dazu angeregt, die ich vor rund 14 Tagen am selben Tag gesehen habe: weiterlesen
13. August 2020
YOGI LÖW SCHICKT MICH IN URLAUB
Heute MUSS ich Ihnen unbedingt schreiben, schließlich es kommt nicht alle Tage vor, dass man vom Fußball-Bundestrainer in Urlaub geschickt wird. Und das kam so:
Als ich gestern an der REWE-Einkaufskasse warte und durch das „Offizielle DFB-Sammelalbum 2020“ blättere (für das man je nach Einkaufswarenwert eine bestimmte Anzahl Sammelbilder erhält), bin ich von einer ganz bestimmten Abbildung fasziniert. Stellvertretend für mein eigenes Porträt als „Fan“ ist hier ein schemenhaftes Dummy-Porträt zu sehen und der Name Walter Mustermann zu lesen.
Einige von Ihnen wissen vielleicht, dass mich diese Platzhalternamen fiktiver Personen seit langer Zeit faszinieren. In amtlichen Formularen steht beispielsweise Max Mustermann (der übrigens der Ehemann von Erika Mustermann ist). weiterlesen
04. August 2020
EXTRATERRESTRISCHE WÖRTERBÜCHER
Vor zwei Tagen hatte Peter Handkes neues Stück Zdenêk Adamec im Rahmen der Salzburger Festspiele Uraufführung. Handke fällt mir momentan ständig ins Auge, weil ich im September ein nature writing Seminar zu seinem Roman Das Jahr in der Niemandsbucht leiten werde.
Aber der Grund, warum ich die Premiere zum Anlass für diesen Blogbeitrag nehme ist ein bestimmter Zusammenhang zwischen seinem Stück und dem Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry, der die Lösung des Rätsels aus meinem letzten Blog-Beitrag ist. Das polnische Straßenschild auf dem Foto ähnelt nämlich stark der Zeichnung in diesem Klassiker, auf der eine Schlange zu sehen ist, die einen Elefanten verspeist hat. Erinnern Sie sich? weiterlesen
27. Juni 2020
IM BAUCH DER SCHLANGE
Heute schon wieder etwas Verpacktes, Unsichtbares (siehe mein letzter Blogbeitrag).
Als ich vor wenigen Tagen dieses Straßenschild in Swinemünde in der Nähe des Hafens gesehen habe, konnte ich es zunächst gar nicht glauben. Ein Straßenschild mit literarischem Bezug? Eine Hommage an eine berühmte Illustration aus einem Klassiker der Weltliteratur?
Natürlich musste ich es sofort fotografieren. Und natürlich muss ich Sie fragen, ob Sie ahnen, an welches Buch ich denke. Wer es mir als Erste/r mailt, bekommt von mir ein Buch geschenkt. Verpackt, versteht sich.
13. Juni 2020
Verhüllen, um sichtbar zu machen
Den heutigen Tag widme ich dem Phänomen der Verhüllung. Voller Wärme denke ich an den großartigen Künstler Christo, der vor wenigen Tagen an Pfingsten gestorben ist, und an seine Frau Jeanne-Claude, die bereits seit rund zehn Jahren tot ist. Beide waren ein charismatisches Team und hatten am selben Tag Geburtstag. Und raten Sie mal, an welchem… genau: heute. Heute wären beide 85 Jahre alt geworden.
Die Kunst der beiden begleitet mich seit vielen Jahren und mein Besuch des verhüllten Reichstag im Sommer 1995 wird mir immer in Erinnerung bleiben und nicht nur wegen des Stoff-Fetzens, dessen offizielle Bezeichnung „aluminiumbedampftes Polypropylengewebe“ lautet, und den ich… nein, nicht illegal herausgeschnitten, weiterlesen
30. Mai 2020
AUCH GEGENSTÄNDE SIND NUR MENSCHEN
Auf meiner kleinen Radtour entlang der Spree, die ich fast jeden Morgen unternehme, muss ich an einer bestimmten Stelle eine stark befahrene Straße überqueren. Während ich an der Ampel warte, starre ich manchmal gedankenverloren auf das Signal „bitte berühren“ Diese zwei Worte, im Laufe meines Lebens vermutlich Tausende Male an Ampeln gelesen, haben in diesen Zeiten der Kontaktsperre für mich eine ganz neue Bedeutung erhalten. Und fast meine ich, einen gewissen flehentlichen Unterton herauszuhören, der in diesen zwei Worten mitschwingt.
Ja, ich berühre dich gern, denke ich dann und lege meine Hand auf den leicht gewölbten Rücken dieses Plastikwesens. So auch heute Morgen.
Und dann ist heute Morgen noch etwas Anderes passiert: die Aufforderung „bitte berühren“ weiterlesen
13. Mai 2020
WALDEN
Herzlichen Dank für die vielen Lese-Selfies, die mich erreicht haben. Das war wirklich schön, Ihre aktuelle Lektüre (und natürlich Ihr Gesicht) zu sehen.
Ich bin nach wie vor an meinem Lese-Selfie dran: Walden von Henry D. Thoreau. Und ob ich will oder nicht: auf nahezu jeder Seite finde ich thematische Verbindungen zur aktuellen Kontaktsperren-Zeit, beispielsweise wenn ich vom „Grenzerleben“ lese. (Stopp! Wie haben Sie soeben dieses Wort beim Lesen getrennt? Grenz-Erleben oder Grenzer-Leben?)
Thoreau hat zwei Jahre lang in einer selbstgezimmerten Holzhütte am Ufer des Waldensees in Massachusetts gelebt, aus Protest gegen das „rastlose, nervöse, geschäftige, triviale neunzehnte Jahrhundert“, wie er in seinen Tagebüchern geschrieben hat, weiterlesen
23. April 2020
BEHIND EVERY BOOK – das Lese-Selfie
Der diesjährige Welttag des Buches – die ursprüngliche Idee des valencianischen Schriftstellers Vicente Clavel Andrés zu Ehren des am 23. April verstorbenen Autors Miguel de Cervantes – verläuft ganz anders als in den letzten Jahren.
Aktionen wie „Ich schenk dir eine Geschichte“ werden auf den Welttag des Kindes verschoben und Verlage, Buchhandlungen und sowie literarische Institutionen bleiben notgedrungen ganz still oder lassen sich Alternativen einfallen.
So auch der European Writers‘ Council, der alle Autor*innen dazu aufruft, zwei Fotos von sich zu veröffentlichen.
Auf dem ersten ist ihr Gesicht hinter dem Buch versteckt, das sie selbst geschrieben haben. Auf dem zweiten ist ihr Gesicht dann zu sehen. weiterlesen
10. April 2020
FASTEN EI ER
Die beiden Oster-Ei-Buchstaben E und I schwirren mir in diesen Tagen immer wieder durch den Kopf. Sie sind beispielsweise in den derzeit häufig benutzten Kontaktsperre-Worten Einsamkeit und Alleinsein enthalten (sogar zweimal).
Auch der Benediktinermönch Pater Anselm Grün spricht über diese beiden Gefühle, als ich vor wenigen Tagen auf Deutschlandradio mitten in einem Interview mit ihm lande. Ich war ihm auf der Frankfurter Buchmesse letztes Jahr per Zufall begegnet. Er – mit seinen rund 300 lieferbaren Titeln ein wirklich erstaunlicher Bestsellerautor – sagt, dass wir in der jetzigen Situation alle dazu aufgerufen sind, uns aufs Wesentliche zu konzentrieren.
So hält die diesjährige österliche Fastenzeit mit der Kontaktsperre eine weitere mögliche Dimension für uns bereit: auch Kontaktsperre kann in eine Form von Fasten-Praxis umgewandelt werden. weiterlesen
31. März 2020
DER KALEKO-KICK
Natürlich, Corona berührt mich. Menschlich, politisch, gesellschaftlich und nicht zuletzt auch wegen all der sprachlichen, kreativen und narrativen Blüten, die dieser Virus treibt. Aber in meinem Blog wollte ich eigentlich nicht darüber schreiben. EIGENTLICH…
Das ist jetzt anders. Und Auslöser dafür war ein Gedicht von Mascha Kaleko, das mir meine Cousine Gudrun gestern als Zeitungsausschnitt-Foto via WhatsApp geschickt hat. Das Gedicht, entstanden in der existentiell bedrohlichen Lebenssituation der Lyrikerin in den 30er Jahren ist ein weiterer Beweis für die faszinierende Zeitlosigkeit wirklich guter Lyrik.
’Rezept’ heißt das Gedicht und natürlich sind wir alle in diesen Tagen gefordert, uns ein ganz individuelles Rezept für diese Krisenzeit zusammenzustellen. weiterlesen
03. Februar 2019
POLYDAKTYLE TEXTE
Ich bin zwar wieder zurück in Deutschland, aber nachts im Dunkeln höre ich immer noch das sanfte Schnurren der vielen Katzen, denen ich am vorletzten Tag des vergangenen Jahres begegnet bin und zwar auf Key West, Florida im Haus von Ernest Hemingway.
Im Haus selbst sowie auf dem großzügigen Grundstück streunen nicht nur jede Menge Tourist*innen, sondern auch rund 20 Katzen.
Das Besondere: allesamt sind sie Nachfahren der ersten Katze namens Snowball, die Hemingway von einem Kapitän geschenkt bekommen hat. Hem liebte Katzen und ließ sich für sein Schreiben nicht zuletzt von ihrer unbestechlichen Unabhängigkeit inspirieren.
Während meines Besuchs konnte ich zwei dieser Katzen längere Zeit beobachten. weiterlesen
15. Dezember 2018
BEGLITTERING NEW YEAR
Mit diesem letzten Blogbeitrag in 2018 wünsche ich Ihnen angenehme neun Resttage bis Heilig Abend und ein möglichst ideales Hinübergleiten ins neue Jahr. Ganz so, wie Sie es sich wünschen: Entspannt und ruhig, überraschend und abenteuerlich oder… handbeglittert.
Haben Sie dieses Wort schon einmal gelesen?
Ich bin vor wenigen Tagen zum ersten Mal darauf gestoßen und zwar auf der Rückseite meines Adventskalenders aus dem Coppenrath Verlag. „Handbeglittert in Deutschland“ steht da.
Und deshalb verliere ich hier nicht viele Worte, sondern wünsche uns allen ein möglichst friedvolles, jederzeit lebendiges und immer wieder glückshandbeglittertes neues Jahr.
2. Dezember 2018
MEIN NAME IST HASE
Es geht leider nicht anders: NOCH ein Blogeintrag zum faszinierenden Thema „Name“. Und warum?
Weil ich am Montag Abend eingeladen war und auf dem Klingelschild ist mir unter allen Namen sofort HAASE ins Auge gesprungen. Und warum?
Weil ich kurz davor in einem Schreibwarenladen einen ganz bestimmten Zettel für meine Sammlung „Stiftproben“ mitgenommen habe. Und warum?
Weil auf diesen Zettel etwas – in meinen Augen – sehr Besonderes gekritzelt wurde: Mein Name ist Hasan.
Natürlich dachte ich sofort an „Mein Name ist Hase und ich weiß von nichts.“ Ein Sprichwort, das übrigens nichts mit dem Tier Hase zu tun hat, sondern auf den Heidelberger Jura-Studenten Viktor Hase zurückgeht (Achtung! weiterlesen
25. November 2018
IM INNEREN EINES HUNDES
Gestern habe ich ein Lesezeichen geschenkt bekommen. Es ist im Letterpress-Verfahren mit Druckerpresse und Metallbuchstaben à la Gutenberg gedruckt und fühlt sich ganz weich an, wenn man drüberstreicht und sich in den wundersamen Worten verliert:
„Outside of a dog, a book is man’s best friend. Inside of a dog it’s too dark to read“
Das gefällt mir und ich bin schon auf der Suche nach einem angemessenen Buch für dieses Lesezeichen.
Irgendwo in meinen Bücherstapeln habe ich Romane von Jonathan Carroll, in dessen phantastischen Welten immer wieder sprechende Hunde vorkommen. Und irgendwo steckt auch Das Porträt des Künstlers als junger Hund von Dylan Thomas – gekauft, weiterlesen
16. November 2018
DAS VERGNÜGEN VON SICH SELBST BEDIENT ZU WERDEN
Sind Sie schon einmal von sich selbst bedient worden?
Ich hatte vor ein paar Tagen im Frühstücksraum eines Hotels dieses besondere Vergnügen. Die Bedienung, die mit einer kleinen silberglänzenden Thermoskanne an meinen Tisch kam, nach meiner Zimmernummer fragte und wissen wollte, ob ich Kaffee trinken würde, hieß Sandra Schneider. Das konnte ich auf ihrem Namensschild lesen und war kurz sprachlos, wie Sie sich denken können.
„Nein, das gibt’s doch nicht.“ sagte ich. „Sie heißen Sandra Schneider!“
Meine Verblüffung konnte sie verständlicherweise erst einmal nicht nachvollziehen. Aber als ich ihr den Grund nannte, schüttelte sie ebenfalls den Kopf und grinste. In der kommenden halben Stunde nickten wir uns mehrmals verschwörerisch zu und während ich sie beobachtete, weiterlesen
10. November 2018
MEIN MEMOJI & ICH
Mein Smartphone ist ziemlich smart. Am Dienstag hat es mir beispielsweise erklärt, wie ich mein eigenes Memoji erstellen kann. Eine Art Comic-Ich, das mich visuell repräsentiert und das mich – passend zu meiner Persönlichkeit und jeweiligen Stimmung – in der virtuellen Whatsapp-Welt vertritt. Ein persönlicher Avatar sozusagen, der sogar animiert werden kann. Nach Emoticons, Emojis und Animojis jetzt also die Memojis.
In der literarischen Welt würde man ganz old school von einem Alter Ego sprechen. Einer Figur, die angelehnt ist an die eigene Person und Persönlichkeit, aber gleichzeitig ausgestattet mit fiktionalen Elementen.
Daran muss ich denken, als ich gestern Morgen im Deutschlandfunk einen Beitrag über Iwan Sergejewitsch Turgenewhöre, weiterlesen
04. November 2018
VORLEISTUNGEN
Vorgestern Abend gegen 22:00 im ICE von Mannheim nach Berlin: Zwischenstopp in Frankfurt am Main Hauptbahnhof. Der Zug fährt nicht los. Dann eine Durchsage: „Sehr verehrte Damen und Herren, die Weiterfahrt unseres Zuges wird sich um voraussichtlich 15 Minuten verzögern. Grund dafür: Wir warten noch auf unseren Zugführer, der aus einer anderen Vorleistung kommt.“
Bei „Vorleistung“ denke ich sofort an seriös arbeitende Literaturagenturen und Verlage, die in Vorleistung gehen und also „vorlegen“ (daher der Name Verlag!), wenn sie Autor*innen unter Vertrag nehmen und Zeit und Geld investieren, ohne letztlich zu wissen, ob aus einem vielversprechenden Manuskript tatsächlich ein wirtschaftlich erfolgreiches Buch werden wird.
In dieser Woche ist mir ein Zettel aufgefallen, der bei uns im Hausflur hängt: Gib mir die ZEIT zurück! Sofort!
Woran haben Sie beim Lesen spontan gedacht? An das Wochenmagazin? Stimmt! (Der Zettel hängt über den Briefkästen). Aber vielleicht haben Sie – so wie ich – außerdem an die Zeitdiebe aus Michael Endes Momogedacht? Der Untertitel dieses Kinderromans lautet nämlich Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.
An diese grauen Herren mit grauer Haut, grauen Sakkos und Autos und mit ihren Zigarren aus getrockneter Zeit im Mund.
Die grauen Herren also haben die ZEIT gestohlen, weiterlesen
21. Oktober 2018
BEMBEL WITH CARE
Bei einem meiner ersten Herbstspaziergänge (naja, zugegeben, ich wollte möglichst schnell zum Hauptbahnhof und der Bus kam nicht), sehe ich am Straßenrand dieses Restkartonstück.
Bembel with care.
Natürlich denke ich sofort an Heinz Schenk und seine Unterhaltungsshow Zum Blauen Bock, die er im Hessischen Rundfunk rund 20 Jahre lang bis Ende der 80er Jahre moderiert und in der er seinen Gästen zur Erinnerung immer diesen dickbauchigen Steinkrug, einen Bembel, überreicht hat. Blauer Bock war Kult und jetzt ist es die Marke Bembel with care. Jedenfalls behauptet sie das von sich auf ihrer Website. „BEMBEL-WITH-CARE ist Kult, Lebensfreude und einfach ein bisschen anders.“ steht da. weiterlesen
14. Oktober 2018
KRAWUMM!!!
Ich war außerordentlich gespannt. Vorgestern, als ich in der Stuttgarter Stadtbibliothek einen Workshop zum Thema “Leseförderung durch Comics“ geleitet und unter anderem Der siebente Bruder von Øyvind Torseter empfohlen habe. Denn vorgestern wurden im Rahmen der Buchmesse die Preisträger des Dt. Jugendliteraturpreises bekanntgegeben und Der siebente Bruder stand auf der Auswahlliste für die Sparte Bilderbuch.
Das Image von Comics hat sich in den letzten Jahren glücklicherweise stark zum Positiven gewandelt, dennoch existieren nach wie vor die klassischen Vorurteile à la stereotype Figuren, Sprachverdummung etc. Vorurteile, die der Grund dafür sind, warum Comics nach wie vor außerordentlich selten als Möglichkeit zur Leseförderung genutzt werden.
Ich könnte hier und jetzt einiges dazu schreiben, weiterlesen
08. Oktober 2018
ORLD oder: Der Tag des Lächelns
Von der Piktogramm-Sprache der letzten Woche ist es nur ein kleiner Schritt zur Sprache der Smileys. Haben Sie’s mitbekommen? Vor drei Tagen, am 05. Oktober, war wieder Tag des Lächelns. Dieser Tag wird jedes Jahr am ersten Freitag im Oktober gefeiert und geht auf eine Idee von Harvey Ball zurück. Ball ist Werbegrafiker aus Massachusetts und hat die „Smileys“ 1963 für die Werbeaktion einer Versicherungsfirma erfunden.
Vermutlich gehören Sie wie ich zu den Menschen, die mittlerweile ganz selbstverständlich Smileys in ihre Textbotschaften integrieren, um bestimmte Gefühle zum Ausdruck zu bringen oder um den Ton zu symbolisieren, in welchem unsere dazugehörende Textbotschaft gemeint ist.
Die Sprache des Lächelns ist wunderbar: Als Zeichen des Wohlwollens und der Sympathie, weiterlesen
30.September 2018
DIE ZUKUNFT DER PIKTOGRAMME
In der Straße, in der ich wohne, gibt es ein Gefängnis, das häufig als Drehort für alle möglichen Filme genutzt wird. (Und ob Sie’s glauben oder nicht: genau JETZT, in diesen Minuten, in denen ich nochmals an diesem Blogbeitrag feilen will, läuft parallel in der ARD die Episode 2 von Babylon Berlin und soeben war dieses Gefängnis zu sehen… ich hab‘ schnell ein Bildschirmfoto gemacht.)
Jedenfalls stehen bei all diesen Dreharbeiten immer jede Menge Produktionswagen an der Straße: für Technik, Kostüme und Catering. So auch vorgestern.
Auffallend sind einige identisch aussehende weiße Wägen, die nebeneinander stehen und auf denen riesengroße Piktogramme lesender Menschen zu sehen sind. weiterlesen
23. September 2018
DIE LEERE LÄSST MICH NICHT LOS
Herzlichen Dank für all Ihre Assoziationen zu meinem letzten Blogbeitrag und der Frage, was ein – im besten Sinn – „leerer Text“ sein könnte.
Manche von Ihnen denken dabei ausschließlich an Negatives.Worthülsen und sinnentleerte Wörter beispielsweise. „Inhaltsfreies Dumpfbackengelaber, nix wie heiße Luft sozusagen. Leeres Geschwätz, hohl, ohne Aussage, evtl. auch pseudointellektuelles Selbstdarstellungsgebaren.“ schreibt eine Blogabonnentin.
Eine andere Leserin wiederum assoziiert die buddhistischeHaltung, „die davon ausgeht, dass die Realität zwischen den Dingen liegt, was letztlich das Loslassen von jeglichen Annahmen bedeutet.“ Leere Texte seien auf den ersten Blick möglicherweise unverständlich, könnten„uns aber Freiräume geben,weiterlesen
15. September 2018
LEERE TEXTE
Heute war ich im C/O Berlin, um mir in der Ausstellung Sofort Bilder die Polaroids von Wim Wenders anzusehen.
Ich bleibe wesentlich länger in der Ausstellung als gedacht und lasse mich anhand des Audioguides von Wenders’ Stimme durch seine poetisch-philosophischen Bild- und Gedankenwelten treiben. Seine Formulierung vom „leeren Bild“ fasziniert mich sofort und verbindet sich beispielsweise mit all den Himmelspanoramen, die in der Ausstellung zu sehen sind und die der Künstler immer noch fotografiert (mittlerweile mit dem iPhone).
Ein aus dem Flugzeugfenster fotografiertes Himmelspolaroid ist es auch, welches Alice, das selbstbewusste achtjährige Mädchen aus Wenders’ Roadmovie Alice in den Städten (1974) in ihren Händen hält. weiterlesen
10. September 2018
BOOK SWAPS
Nun bin ich also wieder zurück in Berlin. Acht Wochen abenteuerliche Recherche-Reise mit Motorrad und Zelt liegen hinter mir. Durch Alaska und Kanada bis zur mexikanischen Grenze und anschließend durch weitere Staaten bis nach Atlanta.
Unzählige wunderbare Begegnungen mit Menschen und Landschaften. Und immer wieder auch mit Büchern. Beispielsweise in Form von Buchregalen an öffentlichen Orten, in denen jede Menge kostenlose Bücher nur darauf warten, mitgenommen oder ausgetauscht zu werden.
Auch in Deutschland werden solche Angebote seit einigen Jahren immer populärer, aber die Bandbreite der Orte ist in den USA und Kanada wesentlich breiter. Nicht nur Bibliotheken bieten solche Regale direkt im Eingangsbereich an, sondern auch fast jeder Supermarkt – sowohl die großen Ketten als auch die kleinen unabhängigen. weiterlesen
22. Juni 2018
MAKE LIFE A RIDE
Noch wenige Tage, dann ist es soweit: ich werde die letzte Seite des Kapitels „Arbeit“ zu Ende gelesen haben und das nächste Kapitel aufschlagen. Das hat einen Titel und der lautet „Abenteuer“.
Keine Ahnung, was auf all den Seiten erzählt werden wird. Keine Ahnung, was passieren wird. Und genau darauf freue ich mich: es gibt zwar eine grobe Rahmenhandlung, aber alles andere ist offen. Willkommen Leben…
Wir lesen uns hier wieder ab September und auch darauf freue ich mich.
Ich wünsche Ihnen ein fulminantes Sommerkapitel: Make life a ride!
17. Juni 2018
GEHEIME BUCHCOVER-BOTSCHAFTEN
Ich liebe die wundersame Welt der Buchcover und all die Phänomene, die damit zusammenhängen. Die äußerst unterschiedliche Wirkung auf uns (potentielle) Käufer*innen und Leser*innen beispielsweise, die ein und dasselbe Buch hat, je nachdem, mit welchem Cover es uns anstrahlt und ruft „Kauf mich! Lies mich!“ Bei Klassikerausgaben ist dies besonders auffällig, die im Laufe der Jahre immer wieder in neuem Gewand daherkommen. Aber natürlich auch bei den verschiedenen Taschenbuch-, Sonder-, und Jubiläumsausgaben.
Doch jetzt bin ich einem weiteren Phänomen auf die Schliche gekommen, das mich außerordentlich fasziniert. Ich habe nämlich entdeckt, dass diese Cover ihr Eigenleben haben (und manchmal sogar Zwillinge!). Dass sie sich zusammenrotten und es ihnen offensichtlich Spaß macht, weiterlesen
10. Juni 2018
Ich walkte im Walde so für mich hin
Ich liebe es, morgens im nahegelegenen Fritz-Schloss-Park ein, zwei Sportrunden zu drehen. Es gibt dort einen kleinen Parcours mit allen möglichen Geräten und mit einem Trampolin, das in den Erdboden eingelassen ist und auf dem ich seltsamerweise noch nie einen Erwachsener habe hüpfen sehen (von mir selbst mal abgesehen).
Sonntags mache ich allerdings manchmal blau. Aber nicht heute. Glücklicherweise. Sonst wären mir nicht all die kleinen Wunder begegnet, die ich gefunden habe, obwohl mir der Sinn war, nichts zu suchen.
Es fing an mit einer Taubenfeder, die mir aus dem Himmel direkt vor die Füße fiel. Dann kam der Saxophonspieler, der an der ersten Parkbiegung stand und mit geschlossenen Augen improvisierte. weiterlesen
3. Juni 2018
HALLO FRAU SCHNEIDER!
Ich muss Sie schon wieder kurz nach England entführen. Nach meinem Blogbeitrag vom 22. Mai über Harrys und Meghans Hochzeitsrede, drängt sich heute Elisabeth II hier herein, die gestern 65jähriges Thronjubiläum gefeiert und aus diesem Anlass garantiert Tonnen von Post erhalten hat. Ich schreibe das deshalb, weil ich mir in dieser Woche Gedanken über verschiedene Anrede-Formen gemacht habe.
Grund dafür ist eine Klientin, die mir geschrieben hat, dass sie sich frage „ob die Anrede Liebe/r X am Brief- oder Mailanfang noch zeitgemäß ist. Ich weigere mich nämlich bockig, auf das gebräuchliche HALLO X überzugehen.“
Tatsächlich greift das so unkompliziert daherkommende HALLO aus den Messenger-Diensten wie WhatsApp mittlerweile auch in der Mailkorrespondenz immer mehr um sich. weiterlesen
27. Mai 2018
VOM RINGEN UND KÄMPFEN
Als Schreibcoach erlebe ich immer wieder, dass Menschen, die mit dem Schreiben beginnen, oftmals davon ausgehen, dass die erste Fassung einer Geschichte auch – mehr oder weniger – bereits die letzte Fassung sein wird.
Aus der Tatsache, dass Texte immer wieder aufs Neue überprüft, umgestellt, korrigiert und im Zweifelsfall vollkommen verändert werden müssen, bis sie schließlich zur Endfassung geworden sind, ziehen viele Schreibende die frustrierte Schlussfolgerung, sie selbst seien einfach nicht begabt genug. Denn bei einem „richtigen“ Schriftsteller, einer „echten“ Autorin sei das doch sicherlich anders.
Philip Roth, der diese Woche gestorben ist, ist einer dieser „richtigen“ Schriftsteller und ein berühmtes Beispiel dafür, dass langwierige Schreibprozesse ganz natürlich sind. weiterlesen
21. Mai 2018
IF LOVE IS THE WAY
Wie erfrischend, wenn Jemand es wagt, Genre-Regeln durcheinander zu wirbeln! Das gilt für geschriebene Texte und Geschichten ebenso wie für gesprochene.
Vorgestern haben Prinz Harry und Meghan Markle auf Schloss Windsor geheiratet. Und natürlich folgt die Hochzeitspredigt im Rahmen einer royalen so genannten Märchenhochzeit ebenfalls Genre-Regeln. Sie ist genauso traditionell, gediegen und überraschungsfrei wie der Rest der Hochzeitszeremonie.
Doch gestern hat sich etwas überraschend Unerwartetes eingeschlichen: die lebhafte, leidenschaftliche und vor allem politische Predigt des afro-amerikanischen Bischofs Michael Bruce Curry.
Er hat davon gesprochen, dass Liebe weder unterschätzt noch übermäßig sentimental betrachtet werden dürfe. Und er hat Martin Luther King zitiert, als er sagte, weiterlesen
13. Mai 2018
INTELLIGENTE UNTERHALTUNG
Sie wissen vielleicht, dass ich leidenschaftliche Sammlerin bin. Unter anderem sammle ich Menschen. Lesende Menschen. Lesende Menschen in der Berliner U-und S-Bahn. Zuerst mache ich ein Foto von ihnen (ohne dass sie es merken und ohne, dass ihr Gesicht ganz zu erkennen ist) und dann spreche ich sie an, um Näheres über sie, das Buch und ihre Lesegewohnheiten zu erfahren. https://www.literaturschneiderei.de/portraet/atelier/lesezeichen/
Ich vergesse diese Menschen nicht und wenn ich beispielsweise in einer Buchhandlung eines der Bücher sehe, denke ich an sie.
Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass ich einen dieser Leser*innen je wiedersehe. Aber in dieser Woche ist das tatsächlich passiert.
Als ich in der Turmstraße in die U-Bahn steige und mich setze, weiterlesen
06. Mai 2018
BI NUU
Sie erinnern sich an die TYLPEN von letzter Woche? Gestern hat mir ein spielerisch aufgelegter Samstag-Abend zwei neue Fantasiewörter geschenkt: BI NUU. So heißt ein Club im U-Bahnhof Schlesisches Tor, in welchem die Reines Prochaines, drei Sängerinnen und Performerinnen, ihr 30jähriges Bühnenjubiläum gefeiert haben.
Vor Beginn der Show bestelle ich am Tresen ein Wasser (den Reines Prochaines zu Ehren, die sich selbst als Königinnen von den Ufern des Rheins bezeichnen – welches Getränk würde also besser passen als Wasser?). Ich frage den jungen freundlichen Mann, der hinter der Theke steht und ein sehr kleines Fläschchen Wasser unnötigerweise in ein ebenso kleines Glas umfüllt.
„Was bedeutet eigentlich BI NUU?“
Er sieht mich ein paar Sekunden lang an. weiterlesen
29. April 2018
„ES LEBE DIE TYLPE!“
„Ah… Tylpen!“ sagt der vietnamesische Blumenverkäufer zu mir, als ich vor wenigen Tagen einen Strauß Papageien-Tulpen kaufe und es hört sich an wie eine Mischung aus „Tulpen“ und „Typen“.
Ja, auch Tulpen sind Typen. Oder besser gesagt: sie können es sein. Individuelle Charaktere statt durchschnittliche Standardware. Und je charaktervoller und individueller sie sind, umso ausdrucksstärker und faszinierender wirken sie in einer Vase.
Dasselbe gilt für Figuren in Geschichten. Je charaktervoller und individueller sie sind, umso ausdrucksstärker und faszinierender wirken sie in einer Geschichte. „It is easier to say tulip than to make one.“ hat ein Hamburger Lektor vor kurzem einem meiner Schreibcoaching-Klienten geschrieben und hat damit gemeint, weiterlesen
22. April 2018
WIE INNEN SO AUSSEN
Ja, schon wieder eine Espressotasse auf dem Foto (siehe vorletzter Blogbeitrag). Am Freitag wurde nämlich mein Wohngebiet evakuiert. Wegen einer Weltkriegsbombe, die entschärft werden musste. Also bin ich vier Stunden lang ins Café Arema ausgewandert, um dort das Seminar für den kommenden Tag weiter vorzubereiten: Die Kunst des Achtsamen Schreibens.
Ich bin öfter im Arema. Hier gibt es nicht nur gutes Essen, sondern auch jede Menge antiquarische Bücher, die man kaufen kann, wenn man möchte. Und ich möchte fast immer.
Entsprechend haben sich im Laufe dieser vier Stunden schließlich fünf Bücher angesammelt. Bücher, die – so schien mir – das so genannte kosmische Gesetz der Entsprechungen belegen: Für alle Phänomene der Welt gibt es auf jeder Ebene des Daseins eine Entsprechung. weiterlesen
15. April 2018
HYGGE
In der vergangenen Woche habe ich an der Akademie Burg Fürsteneck in Hessen erneut eine Bildungswoche zum Thema Work-Life-Balance durch Kreativität und Achtsamkeit geleitet.
Immer wenn ich dort bin, fülle ich mehrmals täglich im Speisesaal meine Thermoskanne mit heißem Wasser aus der so genannten Heißwasserbrühanlage (ein wundervolles deutsches Wort, das ich mir gern auf der Zunge zergehen lasse – natürlich erst, wenn es etwas abgekühlt ist!) Neben den üblichen Teesorten wie Kamille oder Rooibos wurde dieses Mal eine neue Teesorte angeboten: Hygge.
Hygge! Das dänische Wort für Gemütlichkeit hat bereits seit einer Weile Hochkonjunktur und steht symbolisch für den Wunsch nach Geborgenheit in der Gemeinschaft und dem Wunsch danach, weiterlesen
07. April 2018
WER DIE KRAFT HAT, EINE ESPRESSOTASSE ZU HEBEN
Als ich gestern beim Sortieren meiner Bücher in Haruki Murakamis „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ blättere (die Kombination Sport und Schreiben fasziniert mich seit langem und Murakami hat in seinem sehr persönlichen Buch wirklich Interessantes über die Ähnlichkeiten beider Phänomene geschrieben). Als ich also in diesem Buch blättere und es dann – einem lieb gewonnenen Ritual von mir folgend – mit geschlossenen Augen an beliebiger Stelle aufschlage, um meinen literarischen Leitspruch des Tages, mein literarisches I Ging sozusagen, zu finden, ruft folgender Satz auf Seite 73 zu mir: „Wer die Kraft besitzt, eine Kaffeetasse zu heben, kann einen Roman schreiben.“
Eine literarische urban legend besagt, dass Hemingway irgendwann einmal mit Freunden darum gewettet hat, wer mit so wenig Worten wie möglich auskommt, um eine ganze Geschichte zu erzählen.
Natürlich hat er – als Meister der Reduktion – gewonnen. Nur sechs Wörter hat er dazu gebraucht: For sale: baby shoes, never worn.
Diese moderne Sage (ob erfunden oder nicht) ist die Basis der so genannten Six Word Memories. Sechs Wörter, die (indirekt) eine Geschichte erzählen und in die man ganze Romane hinein fantasieren kann.
In meinen Seminaren setze ich Six Word Memories manchmal als Schreibexperiment ein, beispielsweise wenn es darum geht, komplexe Plots zusammenzufassen und Handlungen auf den Punkt zu bringen. weiterlesen
25. März 2018
MEIN BUCH IST DA!
Diesen Blogbeitrag schreibe ich mit ganz besonderer Freude und ich muss sagen: mir ist direkt etwas feierlich zumute. Warum? Seit ein paar Tagen ist mein erstes Buch auf dem Markt.
„Achtsames Schreiben. Wie Sie Klarheit und Gelassenheit gewinnen“ heißt es. Erschienen im Duden Verlag und der erste Ratgeber in deutscher Sprache zu diesem Thema.
Manche von Ihnen wissen, dass Achtsames und Autobiografisches Schreiben meine Arbeitsschwerpunkte sind. Mein Buch ist eine Einführung in die Praxis und in die Kunst des Achtsamen Schreibens. Ich habe mehr als 30 Schreibexperimente zusammengestellt, die ich entwickelt und im Laufe der Jahre immer weiter verfeinert habe und mit denen ich zeigen möchte, weiterlesen
16. März 2018
DAS BLAUE BAND DES FRÜHLINGS
In dieser Woche habe ich in der Praxis meiner Ärztin eine Infusion erhalten und wurde währenddessen liebevoll betreut. Als die Assistentin nach 30 Minuten die Kanüle aus meiner Vene zieht und ich mich für die riesige auffallend schöne Blumentasse mit Ingwer-Orange-Tee bedanke, sagt sie „Ja, es wird Frühling“ und fährt fort „Wie heißt es? Ah… Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte. Süße wohlbekannte Düfte… weiter weiß ich aber nicht!“
„Egal,“ sage ich, „Hauptsache es wird Frühling!“ und wir lachen beide.
Ganz unvermutet diese private poetische Seite an einem Menschen kennenlernen zu dürfen: das war ein Geschenk des Tages für mich.
11. März 2018
ALLE SPRACHE IST BEZEICHNUNG DER GEDANKEN
Anlässlich des Weltfrauentags am 08. März hat Kristin Rose-Möhring, die Gleichstellungsbeauftragte im Familienministerium, einen internen Antrag gestellt, unsere Nationalhymne gendergerechter zu machen. Die beiden Begriffe „Vaterland“ und „brüderlich“ könnten verändert werden zu:
Einigkeit und Recht und Freiheit, für das Deutsche Heimatland!
Danach lasst uns alle streben, couragiert mit Herz und Hand!
Ein wunderbarer Vorschlag, wie ich finde, der erstens außerdem unsere große „Heimatbegriff“-Debatte positiv inspirieren könnte und der zweitens im Übrigen nichts Spektakuläres ist. Bereits 2012 wurde in der österreichischen Bundeshymne „Heimat bist Du großer Söhne“ in „Heimat großer Töchter und Söhne“ geändert und auch Kanada hat „True patriot love in all thy sons“ zu „in all of us“ verändert. weiterlesen
04. März 2018
WENN MAN NEBEN EINER LITERARISCHEN FIGUR SITZT
Am Donnerstag hat mein neues Seminar „Historisches Schreiben“ am Weiterbildungszentrum der Freien Universität begonnen. Im Zentrum steht die Frage, wie man einen literarischen Text historisch glaubwürdig machen kann.
Eine Methode ist beispielsweise, eine Figur mit Eigenschaften, Hobbies oder anderen Aspekten auszustatten, die es einem auf elegante Weise ermöglichen, spezifische zeitgeschichtliche oder kulturelle Aspekte in den Text einzubauen. Und genau so eine Figur saß am Montag im ICE neben mir, als ich aus Süddeutschland zurück nach Berlin fuhr und auf der Fahrt an der Vorbereitung meines Seminars gearbeitet habe.
Diese Figur war männlich, 69 Jahre alt, Typ Berliner Schnauze, nüchtern aber liebenswürdig und seeeeehr gesprächig. So erfuhr ich, weiterlesen
25. Februar 2018
Paralleluniversum?
In diesem Jahr konnte ich auf der Berlinale leider nur drei Filme sehen. Einer davon hieß Classical Period und lief im Delphi Filmtheater in der Reihe Internationales Forum. Ich hatte keine Ahnung, wovon er handelte, als ich die Karte kaufte. Abgesehen davon, dass ich dieses Überraschungs-Prinzip als Berlinale-Strategie liebe, war es am Donnerstag die einzige und gleichzeitig letzte Möglichkeit, überhaupt noch einen Film zu sehen.
So wusste ich zum Zeitpunkt des Kartenverkaufs noch nicht, dass ich zwei Stunden später mit dem Regisseur Ted Fendt vor dem Filmtheater stehen würde, um ihn zu fragen, ob er der Ansicht sei, dass die Welt der Literatur eine Art Parallelwelt zur realen Welt sei oder ob sie im Gegenteil die abstrahierte Essenz der realen Welt darstelle. weiterlesen
17. Februar 2018
DER BEWEIS, DASS AUCH WEBSITES FASNACHT FEIERN
In dieser Woche, am Rosenmontag, habe ich eine Mail bekommen, die ich allerdings erst einen Tag später gelesen habe:
Der Domainname seltenebriefmarken.de steht zum Verkauf.
Wenn Sie nähere Informationen wünschen, kontaktieren Sie mich bitte.
Hochachtungsvoll
Heinrich Dirk
Mein erster Impuls war, die Mail als typische Spam zu löschen (denn was sollte meine Literaturschneiderei mit Briefmarken zu tun haben?). Aber dann hielt ich inne: ich hatte die Mail am Rosenmontag erhalten, überall in Deutschland gab es Menschen, die sich verkleideten und wer konnte mit Sicherheit sagen, dass dies nicht auch Websites tun (schließlich müssen sie jeden Tag hart arbeiten und zur Verfügung stehen, weiterlesen
11. Februar 2018
BLUTDRUCKSENKENDE MITTEL
In dieser Woche war wieder ROOM SERVICE. Sie wissen vielleicht: meine Intensivgruppe Prosa, die einmal im Monat stattfindet. Als wir mit den Textbesprechungen fertig sind, hat eine der Teilnehmer*innen von ihrer 24-Stunden Blutdruckmessung erzählt und davon, dass die betreuende Ärztin bei der Auswertung gefragt habe, was zwischen 22:00 und 02:30 Uhr gewesen sei, da sei der Blutdruck nämlich sehr hoch gewesen. Gelesen habe sie, aber es sei gar kein speziell spannendes Buch gewesen, kein Krimi oder sowas.
Jetzt haben wir also den Beweis: Lesen kann blutdrucksteigernd wirken. Selbst dann, wenn es sich gar nicht um spezifisch spannende Lektüre handelt. Eine gute Nachricht für alle, die unter niedrigem Blutdruck leiden. weiterlesen
04. Februar 2018
4321
Gestern in der School of Life Berlin: ich leite einen Tagesworkshop Autobiografisches Schreiben. Wir sprechen unter anderem über Paul Austers aktuellsten Roman „4321“, in welchem er auf rund 1300 Seiten das Leben seines Helden Archie Ferguson in vier Variationen erzählt: wie es war und wie es hätte gewesen sein können.
Und wieder zeigt sich die Bedeutung eines Titels: eine Teilnehmerin erzählt, dass sie das Buch deshalb nicht gekauft habe, weil sie den Titel überhaupt nicht ansprechend fand. Und ein anderer Teilnehmer wusste, dass das Buch eigentlich hätte „Ferguson“ heißen sollen, dieser Titel aber kurz vor Erscheinen geändert wurde, weil er zu stark an die Ereignisse in der Stadt Ferguson im Bundesstaat Missouri erinnere, weiterlesen
26. Januar 2018
SHOF
Dieses Foto muss ich Ihnen einfach zeigen, sonst glauben Sie mir womöglich nicht. Denn als ich vor wenigen Tagen im Hamburger Hotel Königshof meinen Zimmerschlüssel bekommen und den eingravierten Hotelnamen gelesen habe, war ich durchaus irritiert.
Gut, es ist ein sehr preiswertes Hotel, aber trotzdem. Natürlich habe ich spekuliert: ob der falsch geschriebene Name ein Fehler der auftraggebenden Hotelperson war? Eine Person, die möglicherweise kein gutes Deutsch spricht und oft in irgendwelche SHOPs geht (das Hotel liegt in St. Georg…) und SHOF hat sich entsprechend korrekt angefühlt. Oder ein Fehler des Gravur-Unternehmens und die vielen falsch gravierten Schlüssel waren dann wesentlich preiswerter und das Hotel konnte diesem Rabatt nicht widerstehen? weiterlesen
21. Januar 2018
KOPFÜBER oder: GEGEN DEN STRICH
Kurz vor meinem Autobiografie-Seminar letzten Dienstag treffe ich auf eine Teilnehmerin. Sie hat ihren Kopf weit nach unten gebeugt und bürstet ihre Haare gegen den Strich. Dann nimmt sie Schwung und richtet sich wieder auf.
Die Bedeutung der Frisur im eigenen Leben, denke ich. Die Auswirkung auf das Selbstbild ebenso wie auf das Bild, das andere Menschen von jemandem haben. Die Frisur als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, aber auch als potentielles Feld des Maskierens durch den Einsatz von Farbe, Wicklern, Dauerwellen, Fön bis hin zu Haarverlängerungen und Perücken (sei dies aus Krankheitsgründen oder aufgrund von Modetrends).
Wie viele und vor allem welche dieser Masken tun dem eigenen autobiografischen Schreiben gut? weiterlesen
15. Januar 2018
VONG
Am Wochenende habe ich an der Ev. Akademie in Meissen ein Autobiografie-Seminar geleitet. Dabei war unter anderem eine sehr interessierte und schreibbegabte 14jährige Jugendliche – die bis dato jüngste Teilnehmerin an einem meiner Autobiografie-Seminare, was mich sehr gefreut hat.
Von ihr habe ich zum ersten Mal von VONG gehört.
Sagt Ihnen ebenfalls nichts, oder doch? Heute, zwei Tage später, kommt mir meine Unkenntnis direkt erstaunlich vor, denn ich weiß jetzt, dass VONG eine Form von Jugendsprache ist, die seit rund zwei Jahren recht bekannt ist. Sie basiert auf veränderter Grammatik und vielen Anglizismen und nimmt ironisch Bezug auf die schlechten Deutschkenntnisse vieler Jugendlicher. Letztes Jahr haben bei einer Befragung knapp die Hälfte aller Interviewten unter 25 Jahren angegeben, weiterlesen
17. Dezember 2017
VERSUCHUNGEN
Vielen Dank für all die Buchcover, die Sie mir auf meinen letzten Blogbeitrag hin gemailt haben. Buchcover mit Titelwörtern, die ohne Trennungsstriche geschrieben sind. Und weil’s so schön ist, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, zwei Ihrer Beispiele zu teilen:
ULYS
SES
sowie der Bestseller:
MEDI
TATI
ON
für Skeptiker
Dieses grafische freestyling hat natürlich zum Ziel, Aufmerksamkeit bei den Leser*innen zu wecken, wie mir eine erfahrene Verlagsfrau mailt. Und es ist sicherlich eine große Versuchung für Grafiker*innen, ebenso auffallende wie überzeugende Cover zu gestalten.
Lieben Sie Viertelgeviertstriche? Ah, Sie überlegen, was das genau ist? Viertelgeviertstriche werden auch Bindestriche genannt, wenn sie verschiedene Teile eines Wortes zusammenbinden, wie beispielsweise H-Milch. Und sie werden Trennungsstriche genannt, wenn sie ein Wort trennen, beispielsweise, weil ein Teil des Wortes in der nächsten Zeile steht. Viertel-Geviert-Striche können ein Wort auch rein visuell lesbarer machen.
O.k., ich frage also nochmal: Lieben Sie Viertelgeviertstriche? Vielleicht haben Sie darüber noch nicht nachgedacht oder aber Sie sagen: kommt auf den Kontext an.
Den Kontext sage ich Ihnen gern: Bei Titeln auf Buchcovern.
Ich beobachte seit Jahren mit Interesse, wie die Wörter eines Buchtitels auf den jeweiligen Covern gedruckt sind. weiterlesen
03. Dezember 2017
SOFFLEUSE ODER SOUFFLÉ?
Vor drei Tagen beim Zahnarzt: es ist eine lange Sitzung und im Laufe der Zeit bin ich in ein lebhaftes Gespräch mit der Assistentin verwickelt, das wir immer dann fortführen, wenn der Zahnarzt für eine gewisse Zeit den Raum verlässt (vermutlich, um zwischendrin jemand anderen zu behandeln, man kennt das ja…)
Bei der dritten Unterbrechung fragt mich die Assistentin plötzlich:
„Arbeiten Sie?“
Diese Frage wurde mir noch kein einziges Mal gestellt (jedenfalls erinnere ich mich nicht). Ich bin verblüfft, kann die Frage auch gar nicht sofort einordnen und starre ein paar Sekunden auf den Mundschutz, der vor meiner Nase schwebt. Dann verstehe ich: sie denkt, weiterlesen
24. November 2017
HERZFREQUENZSCHREIBEN
Heute in einem Fitness-Center in der Nähe von Heidelberg: „Erlebe Herzfrequenz“ steht da auf einem großen Werbeplakat. Und: „Bewegung in der richtigen Belastungsintensität ist die Voraussetzung für das Erreichen deiner Ziele.“
Das gefällt mir, denn auch beim Schreiben geht es um das Erleben von Herzfrequenz.
Herzfrequenz ist der Quotient aus Herzzeitvolumen und Schlagvolumen. Als Herzzeitvolumen könnte man entsprechend die Gefühlsvielfalt und Gefühlstiefe bezeichnen, die in einer Geschichte steckt. Und das Schlagvolumen könnte sich dann auf den Takt und die Schlagzahl beziehen, in der all diese Gefühle und Emotionen bewusst in die Geschichte eingebaut worden sind.
Und auch der Satz mit der richtigen Belastungsintensität lässt sich sehr gut aufs Schreiben übertragen,
18. November 2017
COFFEE HOUSE SHOP TABLE WRITING
Seit Mittwoch läuft mein aktueller Online Workshop GOLDEN WORDS: in einer kleinen Gruppe vier Wochen lang verschiedene Schreibexperimente, gegenseitige Inspiration und tägliches Feedback. Dieses Mal zum Thema Best of creative writing.
Eines der ersten Experimente nutzt die wunderbare Tradition des Kaffeehausliteratur, sprich: schreiben in Cafés, so wie es vor allem in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts praktiziert wurde.
Natürlich gibt’s nach wie vor diese gemütlichen halb privat wirkenden Kaffeehäuser, in denen man das Beobachten und Skizzieren genießen kann. Aber es gibt auch inspirierende WLAN-Cafés, unterhaltsame Franchise Coffee Shops, Segafredo Stehcafés in Bahnhöfen… und nicht zuletzt die trendigen Coffee Bar-Bereiche in modernen Kantinen für den Espresso nach dem Essen. weiterlesen
13. November 2017
KEINTWITTERBLOG
Seit vergangener Woche darf ein Tweet jetzt doppelt so lang sein. 280 Zeichen statt 140.
„Wir möchten, dass sich jeder einfacher und schneller ausdrücken kann“, sagt Twitter-Chef Dorsey und US-Präsident Trump freut sich, dass er jetzt ausführlicher über seine unfassbar erfolgreiche Chinareise schreiben kann.
Kanzlerinsprecher Steffen Seibert twittert: „Tschechow: ’Die Kürze ist die Schwester des Talents.’ Gilt auch auf Twitter.“ Und auf einem meiner Bleistifte steht „Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.“ Das ist von Mark Twain.
Fragt sich nur, welche die falschen Wörter sind. Und bei dieser Frage ist es letztlich egal, ob ich einen Tweet oder Blogbeitrag,
05. November 2017
LITERARISCHE WINDBEUTEL
Vielen Dank für die vielen inspirierten und inspirierenden Assoziationen zu den LieblingsREADs, die Sie mir als Reaktion auf meinen letzten Blogbeitrag gemailt haben. Es ist eine schöne Vorstellung, dass manche von Ihnen in der letzten Woche in Bäckereien und Buchhandlungen waren, um sich dort mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen.
Eine Blogleserin hat die Brotlektüren um süße Backwarenlektüren erweitert und das möchte ich Ihnen auf keinen Fall vorenthalten. Hier ein Auszug aus ihrer Mail und dazu das Foto einer Papiertüte, wie sie derzeit bei REWE angeboten werden.
Keine Angst: Ich will jetzt gar nicht mit den ganzen Sprachspielen anfangen, die mir bei „Hngr“ in den Sinn kommen. weiterlesen
29. Oktober 2017
LieblingsREAD
Als ich vorgestern in einer kleinen etwas ältlichen Bäckerei in der Warteschlange stand, habe ich diesen alten Brottopf im Schaufenster gesehen. Und zum ersten Mal ist mir aufgefallen, dass im Wort BREAD das Wort READ drinsteckt.
Hier in Berlin gibt es die Modemesse BREAD & BUTTER und ich dachte BREAD & READ: Lesen als Grundnahrungsmittel wie Brot.
Und das ist natürlich gar nicht weit hergeholt, denn für viele Menschen ist das Lesen von Büchern genau das ist: Grundnahrungsmittel, Lebensmittel oder sogar ein Überlebensmittel. In vergleichsweise harmlosen Situationen einer kurzfristigen oder lang andauernden Krankheit bis hin zu aktuellen und historischen Situationen in Kriegen, Lagern und Gefängnissen. weiterlesen
22. Oktober 2017
ANDERE GESCHICHTE – DIESELBEN WÖRTER
Manche von Ihnen wissen vielleicht, dass ich Zettel sammle, die ich auf der Straße finde und auf denen irgendwas geschrieben, gekritzelt oder gezeichnet worden ist. Manche scheinen einfach achtlos weggeworfen zu sein, andere sind vielleicht unabsichtlich verloren gegangen.
Bei dieser Karteikarte, die ich gestern im wahrsten Sinn des Wortes „aufgelesen“ habe, bin ich mir nicht sicher: sie scheint von einer Schülerin oder einem Schüler zu sein, die oder der für eine Geschichtsarbeit gelernt hat. Vielleicht war die Arbeit geschafft und der Zettel wurde nicht mehr gebraucht, vielleicht wurde die Karte aber auch in einem Anfall von „Das kann ich mir niemals merken, also kann ich’s auch gleich wegwerfen“ der Straße geschenkt. weiterlesen
15. Oktober 2017
MESSEN
Mein Gehirn war in der vergangenen Woche offensichtlich noch im Wort-Spiel-Modus der Vorwoche, in der mich das Wort DURCHSETZEN nicht losgelassen hat. Dieses Mal war es das Wort MESSE.
Klar: es war die Woche der Buchmesse. Ich habe sie dieses Mal lediglich von Köln aus verfolgen können, wo ich einige Tage gearbeitet habe. Im Kölner Dom wollte ich mir außerdem unbedingt die Kirchenfenster im so genannten Südquerhaus ansehen, die Gerhard Richter vor zehn Jahren gestaltet hat.
Als ich aus diesem Grund den Dom betrete, probt eine Sängerin gerade das Ave Maria – kaum zu glauben, aber wahr. Ihre Stimme wird über Lautsprecher übertragen und ich stelle mir vor, weiterlesen
08. Oktober 2017
DURCHSETZEN
Vor drei Tagen, am Donnerstag, wurde der diesjährige Literaturnobelpreis bekannt gegeben: Kazuo Ishiguro wird ihn erhalten. Ich kenne von ihm lediglich sein wohl bekanntestes Buch „Was vom Tage übrig blieb“ und da es bereits so lange her ist, seit ich es gelesen habe, erinnere ich mich wesentlich besser an die Verfilmung durch James Ivory und an das ebenso faszinierende wie berührende Spiel von Emma Thompson und Anthony Hopkins.
Vorgestern morgen, einen Tag nach der Bekanntgabe, stehe ich kurz nach acht Uhr morgens in der Stadtbibliothek Stuttgart vor dem Angestellten-Fahrstuhl und warte, bis er kommt. Ich werde an diesem und am kommenden Tag hier Vorleseworkshops leiten. Die Bibliothek hat offiziell noch geschlossen, weiterlesen
30. September 2017
SCHREIBEN UND KÜSSEN
Vor ein paar Tagen hat mir eine Freundin aus Nürnberg dieses Foto geschickt. Eine Papiertüte der Initiative Schreiben e.V., die behauptet: Wer schreibt, küsst besser!
Klar, der Spruch soll werbewirksam sein, in jedem Fall auffallen und darf entsprechend auch ein bisschen provozieren. Wahrscheinlich ist er letztlich also gar nicht ernst gemeint.
Trotzdem: ich merke, dass er mich tatsächlich provoziert. Nämlich deswegen, weil er zwar vordergründig etwas Positives über das Schreiben sagt, sich dahinter aber diese hierarchische Bewertung versteckt, dass es besser ist zu schreiben als nicht zu schreiben. Ja, das mag stimmen. Aber es ist auch besser fernzusehen als nicht fernzusehen (schreit Jemand von Ihnen gerade auf?) Und es ist besser miteinander zu sprechen als nicht miteinander zu sprechen. weiterlesen
23. September 2017
MACHT RECHT MORAL?
Vielen Dank für die bezaubernden Bookfaces, die Sie mir geschickt haben (siehe letzter Blogbeitrag) und ich freue mich natürlich auch weiterhin über Fotos. Das heutige Foto könnte ebenfalls ein Bookface oder ein Buchcover sein. Aufgenommen habe ich es gestern am Bahnhof Hünfeld, dem nächstgelegenen Ort zur Akademie Burg Fürsteneck, wo ich eine Bildungswoche geleitet habe.
Können Sie die eleganten schwarzen Herrenschuhe am oberen Bildrand erkennen? Akkurat hingestellt an der Linie, die man bei Zugdurchfahrt nicht übertreten soll. Wie eine bewusste Inszenierung kam mir das vor oder wie das Überbleibsel-Objekt einer Performance. Sehr besonders…
Zu Hünfeld passen würde es durchaus, denn diese hessische Kleinstadt in der Nähe von Fulda entwickelt sich seit rund 20 Jahren zu einem „Offenen Buch“: an mittlerweile mehr als 100 Hausfassaden stehen poetische Sätze und „textartige Gedankenformen“ wie beispielsweise folgender Dreizeiler:
David Pigeret ist Buchhändler und arbeitet bei Mollat in Bordeaux, der ältesten freien Buchhandlung Frankreichs, in der Abteilung „Schöne Künste“. Kein Wunder also, dass ihn künstlerisch gestaltete Buchcover besonders interessieren und ihn vor einigen Jahren auf die Idee von bookfaces gebracht haben: Er fotografiert seine Kolleg*innen mit Buchcovern vor dem Gesicht und zwar so, dass Cover und Mensch miteinander verschmelzen. Das sieht nicht nur raffiniert aus, sondern auch verblüffend und witzig. Sein Instagram Account hat mittlerweile 40.000 Follower.
Es gab übrigens schon einmal einen ähnlichen Trend: Sleaveface. Da waren es statt der Buchcover Plattencover. Jetzt also Bookface. Sehen Sie sich mal ein paar Beispiele der New York Library an. weiterlesen
10. September 2017
BETREIBE ICH ZENSUR?
Ich bin wieder zurück aus der Sommerpause und hoffe, Sie hatten angenehme Wochen! Waren Sie vielleicht auch auf der documenta? Und haben dort die Installation der argentinischen Künstlerin Marta Minujín „The Parthenon of Books“ gesehen? Minujín hat den größten Tempel der Athener Akropolis maßstabsgetreu als Metallgerüst nachbauen lassen und um die Säulen Tausende von Bücher angebracht, die von weitem wie kleine Mosaiksteinchen aussehen. Alle Bücher waren zu irgendeiner Zeit in irgendeinem Land zensiert und der Platz, an welchem „The Parthenon of Books“ aufgestellt wurde, ist der Platz direkt vor dem Friedericianum. Hier fand am 19. Mai 1933 eine der zahllosen Bücherverbrennungen statt.
Die Installation, die vorab stark in der Aufmerksamkeit der Medien stand, weiterlesen
02. Juli 2017
KREATIVER WANDEL oder: MAJOR TOM IN UNS
Übermorgen findet der letzte Termin eines meiner Seminare zum Kreativen Denken statt. Naturgemäß taucht in diesen Seminaren immer wieder der zentrale Aspekt auf, wie bedeutsam es ist, die eigene so genannte Komfortzone zu verlassen, um Kreativität tatsächlich zu leben.
Wo die individuelle Komfortzone beginnt und wo sie aufhört ist natürlich individuell sehr verschieden. Interessant ist aus meiner Sicht dabei der Aspekt des Scheiterns. Je mehr ich mich an die Randgebiete meiner Komfortzone heranwage, umso größer die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns (wie immer man das für sich definiert).
So hat mir am Freitag Abend Frank Schätzing, der Autor des Bestsellers Der Schwarm, aus der Seele gesprochen, als er in der Talkshow Kölner Treff sagte: „Wenn man wirklich kreativ sein will, weiterlesen
23. Juni 2017
GERN ORDNUNG!
Diesen Montag hatte ich eine kleine Operation unter Vollnarkose. Im Aufwachraum habe ich mich anschließend eine Weile mit der Krankenpflegerin unterhalten, die, wie sie mir erzählte, ursprünglich aus der Ukraine stammt und mit Begeisterung Deutsch lernt. Ich fand, dass sie bereits ziemlich gut Deutsch sprach, aber sie hatte offensichtlich den Ehrgeiz, alles grammatikalisch perfekt zu formulieren.
Als sie mir empfahl, mich erst einmal eine Weile aufzusetzen, fragte sie, ob es „an der Wand lehnen“ heißen würde oder „an die Wand lehnen.“ Ich sagte, dass beides möglich sei, es käme darauf an, ob…. und so weiter.
Als ich mich schließlich von ihr verabschiedete, weiterlesen
17. Juni 2017
CHANGE HEAD
Woran denken Sie bei der Abkürzung TAT? An das Theater am Turm in Frankfurt? An Twin Arginine Translocation, ein Transportsystem aus Pflanzen und Bakterien? An Turnaround-Time, die Zeitspanne zwischen der Spezifikation eines Projektes und dessen Auslieferung oder an Tapas-Akupressur-Technik, eine Richtung der Klopfakupressur?
Seit vorgestern denke ich bei TAT vor allem an das Tieranatomische Theater, das älteste erhaltene Lehrgebäude Berlins und ein Meisterwerk des preußischen Frühklassizismus, das seit mehreren Jahren als Raum für Ausstellungen mit Laborcharakter genutzt wird.
Dort habe ich im Rahmen des Performing Arts Festivals die Lecture Performance Skull X von Flinn Works gesehen. Zwei biografische Geschichten im Kontext deutscher Kolonialgeschichte kreisen bei dieser Performance um einen Schädel und landen letztlich im Innersten des eigenen Kopfes. weiterlesen
11. Juni 2017
WAS MAN NICHT ALLES SOLL
Was man nicht alles soll in dieser unserer Zeit: man soll präsent sein, politisch interessiert und ehrenamtlich engagiert. Man soll Sport machen, gesund essen und genügend schlafen. Und natürlich soll man auch lesen. Oder noch besser: MEHR lesen.
Diese Überzeugung respektive Aufforderung hat mich vor wenigen Tagen auf einer Umhängetasche angelacht. Eine Frau, die ebenfalls auf eine S-Bahn gewartet hat, hatte diese Tasche über die linke Schulter gehängt.
Du sollst mehr lesen.
Das stand da Weiß auf Schwarz, mit großem DU und auch ohne Ausrufezeichen wie ein Appell.
Es handelte sich um eine Werbetasche des Antiquariats Bücherhalle in Schöneberg und sicherlich ist dieser Spruch durchaus ernst und ehrlich gemeint – auch wenn es vermutlich noch ehrlicher wäre, weiterlesen
03. Juni 2017
BRENNENDE ZUNGEN
Heute ist Pfingstsamstag und offensichtlich hat sich das beeindruckende Bild der „Zungen wie von Feuer“, die sich auf die Anhänger Jesu niederließen,
in meinem Kopf festgesetzt, als ich vorhin – auf der Suche nach Collage-Materialien – in einem fremden Papierkorb mit jeder Menge Altpapier die Rhein-Neckar-Zeitung vom 06. Februar unter der Rubrik „Nachrichten für Kinder“ aufschlage und eine kleine Meldung mit der Überschrift „Roboter schreiben aus dem All“ finde.
Sie wissen vielleicht, dass nicht nur der Nasa-Roboter Curiosity seit Jahren vom Mars aus Nachrichten schickt, sondern auch andere Forschungsroboter wie die Juno-Sonde vom Jupiter beispielsweise oder die europäische Raumsonde Rosetta via Twitter von ihren Abenteuern berichten und Hunderttausende Fans haben. weiterlesen
26. Mai 2017
DU SIEHST MICH
An diesem Wochenende findet der 36. Deutsche Evangelische Kirchentag in Berlin statt und überall sind die orange farbenen dünnen Schals zu sehen, die die Teilnehmer*innen tragen.
Die diesjährige Losung „Du siehst mich“ beschäftigt mich gedanklich, seit ich vor kurzem davon gelesen habe. Meine ersten Assoziationen waren eher negativer Art, gingen in Richtung Überwachungskameras und Big Brother is watching you.
Das hat mich erschreckt und doch war es so (wenngleich es sicherlich auch an den beiden comichaft gezeichneten Augen lag, die als grafisches Element den Spruch ergänzen) und hat mir verdeutlicht, in welcher Medienrealität ich lebe.
In der offiziellen Pressemitteilung zu diesem Vers aus dem 1. weiterlesen
19. Mai 2017
WAS AUCH IMMER GESCHIEHT
Ich komme gerade vom Eröffnungstag eines Open Space im Rahmen einer Mediationsausbildung, für die ich Seminare leite. Falls Sie mit dem Format des Open Space vertraut sind – eine ebenso strukturierte wie selbstverantwortliche Methode der Großgruppenmoderation, mit dem Ziel, Themen zu bearbeiten und konkret ins Handeln zu kommen – kennen Sie die vier Prinzipien beziehungsweise Überzeugungen, die diesem Format zugrunde liegen.
Eines davon lautet: „Was auch immer geschieht, es ist das Einzige, was geschehen konnte.“
Das fasziniert mich immer wieder. Allein schon deshalb, weil ich mich frage, ob es tatsächlich so ist oder nicht. Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr bin ich davon überzeugt: ja, weiterlesen
12. Mai 2017
BÜCHERBERGE
Während draußen gerade wunderbares Sonnenwetter ist, denke ich an den überraschenden Schnee-Einbruch, den ich vor wenigen Tagen in den Schweizer Bergen erlebt habe. Im Bergdorf Braunwald, Kanton Glarus, rund 90 Kilometer von Zürich entfernt und gesegnet mit einem klischee-traumhaften Panoramablick auf die Glarner Alpen.
Braunwald ist ein besonderes Dorf. Nicht nur wegen seiner Lage oder weil es autofrei ist und lediglich 300 Menschen hier leben, sondern auch, weil es sich um ein so genanntes Bücherdorf handelt.
An rund fünfzehn Stellen laden offene Schränke und Regale voller Bücher dazu ein, in diesen zu blättern und sie auszuleihen. Beispielsweise im Tourismusbüro, am Bergrestaurant Chämistube oder im Märchenhotel Bellevue. weiterlesen
14. April 2017
THE ANSWER MY FRIEND
Am Dienstag habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Bob Dylan live erlebt. In Hamburg, zusammen mit 7000 anderen Menschen. Bei einem Konzert seiner so genannten Neverending Tour, die seit 1988 andauert und bei der man erfahrungsgemäß nie weiß, was passieren wird. Ob er lediglich eine halbe Stunde spielen wird oder länger (es waren knapp zwei Stunden). Ob er nuscheln oder ob man ihn verstehen wird (ich habe praktisch nichts verstanden) und natürlich vor allem auch, welche Songs er spielen wird (er hat sich durch alle möglichen Gattungen wie Folk, Rock, Country und Blues gespielt und zwar vor allem anhand von Coversongs.)
Das macht mich insbesondere seit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises an ihn nachdenklich: warum Dylan bereits seit Jahren keine eigenen Songs mehr schreibt und sich stattdessen auf die Neuinterpretation von Klassikern konzentriert. weiterlesen
09. April 2017
WIRSINGLASAGNE
Vorgestern bin ich von der hessischen Akademie Burg Fürsteneck zurückgekommen. Dort habe ich eine Bildungswoche zum Thema „Work-Life-Balance durch Achtsamkeit und Kreative Kompetenz“ geleitet. Es war eine intensive Woche, in der naturgemäß unter anderem das kreative Spiel nicht nur mit unsichtbaren inneren Bildern, sondern auch mit sichtbaren äußeren Wörtern immer wieder eine Rolle gespielt hat.
Beispielsweise im Rahmen meines so genannten „kreativen Stress-Parcours“, bei dem eine der einfachsten Aufgaben ein klassisches Buchstabenspiel ist: innerhalb kürzester Zeit möglichst viele neue Wörter zu finden, die sich aus den Buchstaben des Wortes SCHAUBUEHNE zusammensetzen lassen.
Entsprechend wort-findungs-fixiert stehe ich abends am außerordentlich vielseitigen Buffet und lese die kleinen Schildchen, weiterlesen
31. März 2017
UNFASSBARKEITEN
„Ich will den Schmerz das Singen lehren“ lese ich auf dem Litfass-Säulen-Werbeplakat vor der Schleicher’schen Buchhandlung in Dahlem. Vor zwei Tagen war das, direkt nach dem Ende des letzten Termins meines Einführungsseminars Autobiografisches Schreiben.
Ein intensives und berührendes Seminar, an dessen achten und letzten Termin das Thema „älter werden“ immer wieder aufgetaucht ist. Und die Frage, auf welche Art und Weise wir uns mit dieser Frage – und mit dem, was sie in uns auslöst – schreibend auseinandersetzen können.
Wie passend, denke ich, als ich diesen Satz lese über den Schmerz, den (nicht: dem!) ein Ich das Singen lehren will (nicht: möchte! Nicht: werde!). weiterlesen
25. März 2017
THE VOICE OF GERMANY
Ja, er wird „The Voice“ genannt. Christian Brückner. Der wohl berühmteste Synchronsprecher Deutschlands. Gehört habe ich ihn schon oft. Nicht auf Hörbüchern (da stören mich bekannte Stimmen eher als dass sie mich erfreuen), sondern in Filmen, als die deutsche Stimme von Harvey Keitel, Peter Fonda, Dennis Hopper, Gerard Depardieu, Donald Sutherland und natürlich von Robert de Niro.
Gestern habe ich ihn zum ersten Mal live gesehen. Auf der Leipziger Buchmesse. Aber nicht abends um 17:30, wo er „Große jüdische Literatur aus Litauen“ gelesen hat (Litauen ist diesjähriges Schwerpunkt-Land der Buchmesse).
Sondern mittags um 11:30, als ich gerade auf der Messe angekommen war, Jacke und Rucksack an der Garderobe abgegeben hatte und auf dem Weg durch die große Glashalle an einem Hot Dog Stand vorbeikam. weiterlesen
19. März 2017
GELEGENTLICH GERN GEMEINSAM
Raymond Queneaus Stilübungen ist eines der Bücher, die mich seit langem in immer neuen Zusammenhängen begleiten. Vor rund 25 Jahren habe ich es für meine Vordiplomsprüfung im Bereich Literaturwissenschaft gewählt und letztes Jahr beispielsweise war es Inspiration für mein Online-Schreibseminar GOLDEN WORDS zum Thema Stil.
In seinen Stilübungen hat Queneau 1947 die Beschreibung einer kleinen unscheinbaren Begebenheit in einem Autobus in 108 Stilen variiert. Die deutsche Übersetzung von 1961 wurde zwar 1990 revidiert, dennoch sind solch ältlich wirkenden Begriffe wie „Überzieher“ statt „Mantel“ geblieben.
Dies haben die beiden in Berlin lebenden Übersetzer Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel letztes Jahr geändert und nicht nur alle 108, weiterlesen
10. März 2017
TRIUMPH & DISASTER
Letzten Freitag stand ich auf der Gästeliste der Liebe.
Wäre das nicht ein schöner erster Satz für einen Roman? In Wirklichkeit (aber was heißt schon Wirklichkeit?!) handelt es sich bei dieser Liebe um eine bekannte Parfümerie in Hannover, die zu einem abendlichen Event eingeladen und ich wiederum das Vergnügen hatte, zwischen rund 200 Gästen auf drei Etagen kleine Burger und Berliner Currywurst zu essen und Glas und Durchsichtigkeit mehrerer Gin Tonics mit Flakon und Durchsichtigkeit der exotischsten Parfums zu vergleichen.
Auf Tischen präsentierten sich besondere Marken, mit wundersamen Namen wie Triumph & Disaster. Dieses Label aus Neuseeland verdankt seinen Namen einer „nostalgischen Geschichte des Gründers Dion Nash. weiterlesen
05. März 2017
VERTRAUT WIRD FREMD
Die Berlinale ist – gefühlt – bereits eine Weile vorbei. Und doch bin ich noch voller Bilder, Worte und Themen. Mein Schwerpunkt in diesem Jahr waren Dokumentationen sowie die faszinierende Retrospektive „FUTURE IMPERFECT. SCIENCE. FICTION. FILM“. Eine Neuentdeckung war für mich beispielsweise einer der bedeutendsten Science-Fiction-Werke des New Hollywood: THX 1138 von George Lucas aus dem Jahr 1971.
Im Science-Fiction-Genre, dessen Filme häufig auf Kurzgeschichten beruhen, werden Zukunfts-Visionen (in erster Linie als Dystopien) wortgewaltig auf den Punkt gebracht. Und das so aktuelle Sujet des Fremden oder unbekannten Anderen ist allgegenwärtig.
„Die möglichen Welten auf der Erde oder im All eröffnen einen weiten Raum, um Fragen nach kollektiven Visionen und Ängsten immer wieder neu zu verhandeln. weiterlesen
10. Februar 2017
AUTO UNBEKANNT
Heute also zwei Rätsels Lösungen. Die erste (siehe blog vom 05. Februar) ist schnell geschrieben: das Schicksal ist kein schweres Schaf, sondern ein scharfes Schwert. Diese Behauptung hat Roger Whitaker gesungen und er hat ergänzt, dass dieses Schwert oft so tief ins Herz dir fährt. Du bist getroffen und kannst dich nicht wehren, Worte sind sinnlos, Du willst sie nicht hören.
Wie schnell genau das passieren kann, dass man sinnlose Worte sagt, hat eine ältere, vermutlich ebenso bezaubernde wie aufgeregte NDR 1 Welle Nord Zuhörerin erfahren, die sich für ihren Lebensgefährten Whitakers Song gewünscht hat und dabei Loriot-mäßig über Schwerter und Schafe gestolpert ist: https://www.youtube.com/watch?v=knZ7arotsUQ
Dass Worte allerdings meist eben nicht sinnlos sind, weiterlesen
05. Februar 2017
EIN SCHWERES SCHAF
Bevor ich morgen wieder in der Ärztin-Praxis sein werde (siehe Eintrag vom 22. Januar), um dort hoffentlich das Buch der „besonderen Geschichten“ vorzufinden, möchte ich heute ein kleines Fundstück mit Ihnen teilen, das mir gerade über den Weg gelaufen ist. Es ist ebenfalls ein kleines Rätsel.
Kennen Sie die Lösung?
28. Januar 2017
LE PETIT BORG
Am Montag stand ich an der Kreuzung Invalidenstraße/Chausseestraße. Vor mir eine junge Frau mit einem sehr besonderen Rollkoffer-Motiv: Der kleine Prinz von Saint-Exupery. Dann sah ich, dass sie außerdem eine Umhängetasche von Björn Borg trug. Welch interessante Kombination. Und: gibt es vielleicht sogar etwas, das Beide miteinander verbindet – Borg und den Prinzen – und aus diesem Grund für die junge Frau besonders attraktiv ist? Was könnte das sein?
O.k., der Klassiker aus Frankreich und sechs Titel bei den French Open. Kunstmärchen und Kunstrasen.
Oder der Modeaspekt: Borg, seit langem schon Besitzer einer erfolgreichen Modemarke und der Kleine Prinz, dessen Mantelfarbe im Laufe der Publikation von grün auf marineblau geändert wurde? weiterlesen
22. Januar 2017
WAS IST BESONDERS?
In dieser Woche war ich zum ersten Mal in einer neuen Ärztin-Praxis. Im Wartebereich auf einem kleinen Tischchen lag dieses Buch, das mir sofort auffiel, weil es der einzige farbige Gegenstand war in einer ansonsten ausschließlich in Weiß gehaltenen Praxis. Als ich dann den Titel las, wollte ich natürlich gleich herausfinden, was mit „Besondere Geschichten“ wohl gemeint war, wurde dann allerdings aufgerufen.
Als ich mir im Anschluss an die Konsultation noch ein paar Minuten Zeit nehmen wollte, um hineinzublättern, habe ich mich spontan umentschieden und stattdessen lediglich ein Foto gemacht. Ich will nämlich bis zu meinem nächsten Termin in der Praxis in zwei Wochen mit mir selbst wetten: habe ich genügend Fantasie, weiterlesen
14. Januar 2017
UND IMMER WIEDER DER SINN
Gleich an meinem ersten Arbeitstag in diesem neuen Jahr werde ich mit einem Fotomotiv für meine Sammlung ’Lesezeichen’ beschenkt. Die entsprechende Leserin in der U-Bahn ist mir vor allem deshalb sofort aufgefallen, weil sie so jung und die Herder-Taschenbuch-Ausgabe, in der sie liest, so alt ist. Viktor Frankls Klassiker ’Das Leiden am sinnlosen Leben’.
Während des Lesens macht sie immer wieder Notizen in das Buch, es kann also keine Bibliotheksausgabe sein. Ein Exemplar aus dem Buchregal ihrer Eltern? Aus einem Antiquariat? Außerordentlich unwahrscheinlich, dass diese Frau in ein Antiquariat gehen würde, um dort gezielt nach diesem Buch zu fragen. Ein Zufallsfund vielleicht?
Schon seit Jahren ist mir Frankls Logotherapie nicht mehr über den Weg gelaufen. weiterlesen
18. Dezember 2016
WEISS WIE EIN ROMAN
Als ich in dieser Woche in einer Praxis für physikalische Therapie meinen Blick von der Behandlungsliege aus über die Stuckelemente an der Decke gleiten ließ, erzählte ich der sympathischen Angestellten, die mich gerade an ein Gerät anschloss, dass diese Decke auf mich so wirke, als würde man von einen Flugzeug aus auf ein puderschneebedecktes Blumenfeld in die Tiefe blicken.
Sie lachte und sagte, dass es interessant sei, was den Patientinnen und Patienten so alles einfalle, da könne sie direkt einen Roman drüber schreiben. Eine andere Patientin beispielsweise würde in den Deko-Elementen Mandalas sehen und diese während der Behandlungszeit immer gedanklich farbig ausmalen.
Ja,
09. Dezember 2016
EFFEKT vs WIRKUNG
Vielen Dank für Ihre Rückmeldungen zu den „wahren Worten“, über die ich letzte Woche geschrieben habe. Auch für eine kritische Stimme, die anmerkte, dass man in diesen Tagen mit dem Ausdruck „neue Welt“ vorsichtig sein sollte.
Umso hellhöriger war ich, als ich vor wenigen Tagen im ICE von Stuttgart nach Berlin neben einem älteren Mann saß, auf dessen Klapptischchen einige handgeschriebene A4 Blätter lagen. Mit einem Kugelschreiber strich er immer wieder Wörter durch und fügte Ergänzungen ein.
„Ich fahre zu einem runden Geburtstag. Nelli wird 80. Meine älteste Schulfreundin. Ich soll eine Rede halten,“ erklärte er mir, als eines der Blätter von seinem Tischchen rutschte und auf meinem Schoß landete. weiterlesen
02. Dezember 2016
RIEN!
Zurzeit leite ich unter anderem einen Buchclub zu Ingeborg Bachmanns Prosa. In dieser Woche stand ihre Erzählung ’Das dreißigste Jahr’ im Mittelpunkt. Natürlich reichen drei Stunden Seminarzeit bei weitem nicht aus, um diese vielschichtig philosophische und sprachlich außerordentlich faszinierende Erzählung angemessen zu diskutieren.
Und doch spinnt sich in der Diskussion bereits in dieser kurzen Zeit einer von Bachmanns roten thematischen Fäden: die Utopie.
Literatur als Utopie. Als Sinn für noch nicht geborene Wirklichkeiten.
Eine sprachliche Utopie mit suggestiver Wirkkraft ist eines ihrer Anliegen, wenn sie sagt: „Wenn aber nun die Schreibenden den Mut hätten, sich für utopische Existenzen zu erklären, dann brauchten sie nicht mehr jenes Land, weiterlesen
27. November 2016
SELBSTGEBURT
Am Donnerstag habe ich an der School of Life Berlin eine Veranstaltung zum Thema Autobiografisches Schreiben durchgeführt. Im Zentrum stand der Überblick über verschiedene Autobiografische Schreibweisen sowie autobiografische Aspekte wie beispielsweise Erinnerung, Verletzlichkeit oder die faszinierende Tatsache, sich durch Autobiografisches Schreiben noch besser zu verstehen.
Tags zuvor hatte ich in einer Second Hand Buch-Spendenaktion an der Freien Universität in vielen Kartons gewühlt und neben Strawinskys Autobiografie und einem Büchlein mit dem bestechenden Titel „Wenn Bach ein Tagebuch geführt hätte…“ unter anderem auch zwei Bücher von Maxie Wander erworben.
Erstens die Originalausgabe ihres Klassikers „guten morgen, du schöne“ (ja, in kleinen anfangsbuchstaben!). Erschienen 1980 im DDR Verlag Der Morgen. weiterlesen
20. November 2016
EINE SCHRIFTSTELLERIN ALS BUNDESPRÄSIDENTIN?
Seit einigen Tagen steht Frank-Walter Steinmeier als ein offizieller Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten fest.
Auf der Grundlage der Tatsache, dass laut Grundgesetz Artikel 54 „jeder Deutsche“ wählbar ist, der das Wahlrecht zum Bundestage besitzt und das vierzigste Lebensjahr vollendet hat“, hat Spiegel Online bereits Anfang Juni „eine Liste mit 21 denkbaren und weniger denkbaren Kandidaten zusammengestellt“, von denen jeweils zwei per Foto nebeneinander zu sehen sind. Als LeserIn kann man dann auf diejenige Person klicken, die man im Vergleich für geeigneter hält. Anschließend wird die weg-geklickte Person durch eine neue ersetzt.
Ich erinnere mich, dass ich beschämt war, als ich im Sommer diesen Test gemacht habe und als erstes Paar Wolfgang Schäuble und Herta Müller erschien. weiterlesen
13. November 2016
TRUMP: EIN MANN OHNE EIGENSCHAFTEN?!
Meine vergangene Woche war stark von Trumps Wahlsieg geprägt. Gewonnen hat dieser Mann gegen eine Frau, über die President Obama gesagt hat, ihr Wahlkampf sei „mehr Prosa als Poesie“.
Das war vor einigen Monaten, als der Wahlkampf noch nicht seine eskalierenden Höhepunkte erreicht hatte.
Im Laufe dieser erschreckenden Entwicklung habe ich mich immer wieder gefragt, welcher literarischen Gattung man wohl Trumps Wahlkampf zuordnen würde, wenn man Clinton mit Prosa und Obama vermutlich mit Lyrik in Verbindung bringt. Ich denke, bei Trump handelt es sich um das, was man klassischerweise als Hetzliteratur bezeichnet.
Und heute Vormittag beim ARD Presseclub zum Thema „Risikofaktor Trump?“ spricht Moderator Volker Herres in seinen einführenden Worten von einem Mann, weiterlesen
06. November 2016
Z
Früher habe ich beim Buchstaben Z immer zuerst an Zorro gedacht. Seit einer Weile steht Z für mich vor allem für das Logo-Z der ZEIT-Beilage ZEIT ZUM ENTDECKEN. Und seit dieser Woche hat der Buchstabe Z eine weitere Sofort-Assoziation erhalten: Z wie Zahnarzt.
Das liegt daran, dass der Zahnarzt, in dessen Praxis ich vor einigen Monaten zum ersten Mal war, ebenfalls ein Z als Logo gewählt hat und ich von ihm einen Brief – mit entsprechendem Logo – anlässlich meines Geburtstags erhalten habe.
In diesem Brief gratuliert er mir nicht nur „von Herzen“ (was mich durchaus erstaunt, denn diese eine Begegnung würde ich rückblickend nicht als Basis für eine herzliche Geburtstagsgratulation interpretieren. weiterlesen
30. Oktober 2016
GERUHSAM WIRD COOL
Als ich am Dienstag mit dem Rad zum Hauptbahnhof gefahren bin, um dort einen Brief einzuwerfen, sah ich Ulrich Wickert, der gerade aus dem Haupteingang kam und auf ein Taxi zusteuerte. Er ging langsam, gebeugt und leicht hinkend. Dann öffnete er die hintere Tür des ersten wartenden Taxis, legte als erstes seine dunkle Aktenmappe auf den Rücksitz und setzte sich dann selbst hinein.
Ich musste an die vielen Tagesthemen-Sendungen denken, die er moderiert hatte. Wie lange war das her? Zehn Jahre? Länger? Sein Markenzeichen waren die immer gleichen Abschiedsworte „Einen angenehmen Abend und eine geruhsame Nacht.“
Geruhsam. Geruhsam. Geruhsam… murmelte ich vor mir her, während ich mit dem Rad weiterfuhr Richtung Naturkundemuseum. weiterlesen
24. Oktober 2016
GIB MIR ZWEI ’L’! (ODER NOCH MEHR)
Nach zwei Wochen Seminarleitung in Baden-Württemberg und Hessen habe ich das Wochenende im Yoga Vidya Zentrum in Bad Meinberg verbracht. Und bereits am Eingangsbereich hat mich ein hängendes Windspiel empfangen, das mir wie der Nachklang meiner Bildungswoche auf der Akademie Burg Fürsteneck vorkam, in welcher Kreativität und Achtsamkeit im Zentrum standen. Entsprechend war unter anderem der Aspekt Perfektheitsanspruch immer wieder Thema.
Dieser Anspruch zeigt sich auch beim Schreiben, oftmals sogar beim Verfassen privater Mails. Wie oft korrigiere ich? Wie lange feile ich an Formulierungen? Und sogar bei persönlichen Tagebucheinträgen oder Notizen kann es vorkommen, dass Flüchtigkeitsfehler automatisch korrigiert werden, obwohl Niemand diese Aufzeichnungen lesen wird.
Da der Grad zwischen wohltuender Korrektheit und unter Druck setzendem Perfektionismus sehr schmal ist, weiterlesen
14. Oktober 2016
THE TIMES THEY ARE A-CHANGIN
Bob Dylan hat den Literaturnobelpreis erhalten.
Bob Dylan den Literaturnobelpreis? Ja!
Und zwar für seine „poetischen Neuschaffungen in der großen amerikanischen Gesangstradition.“
Leonard Cohen hat Dylan den ’Picasso of Song’ genannt. Seine Songs seien die ersten gewesen, die – Zitat – „literarisches Niveau“ in die Popmusik gebracht hätten. Und Bruce Springsteen war überzeugt: Elvis Presley habe dem Rock einen Körper geschenkt, und Bob Dylan ein Gehirn.
Letztes Wochenende ist mir Elvis begegnet. In Form eines Feuerzeugs. In der Sakristei der Kirche Christi Auferstehung in Köln. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in einer Sakristei und zwar im Rahmen der Performance Bodyrealities der mixed-abled Tanzcompany Din A 13. weiterlesen
08. Oktober 2016
SMILE DAY
Vielen Dank für Ihre Antworten auf meine Frage, ob und wenn ja, was Sie auf Reisen lesen. Von „grundsätzlich nur Romane aus dem Land, in das ich reise“ bis hin zu „ich kaufe mir meist am Bahnhof oder Flughafen noch was, was mich besonders anspringt, das ist für mich ein echtes Urlaubsritual geworden“ war viel Unterschiedliches vertreten.
Und als ich gestern Vormittag am U-Bahnhof Kleistpark stand, musste ich an eine ganz bestimmte Mail einer Klientin denken, die mir Folgendes geschrieben hat:
„Ich habe auf Reisen allerdings auch schon merkwürdige Koinzidenzen/Entstehung von Bezügen erlebt. In diesem Sommer fand ich beim Wandern z.B. besonders schöne Federn (im Salzburgischen). weiterlesen
02. Oktober 2016
ENDLICH ZEIT, ZU LESEN!?
Letzten Freitag war Start einer neuen ROOM SERVICE Gruppe: fünf Monate lang widmen sich vier Menschen besonders intensiv ihren literarischen Projekten und werden dabei von mir begleitet. Bei diesem ersten Termin haben wir plötzlich über das Verhältnis von Lesen und Reisen diskutiert und die Frage, ob einem das Lesen von Romanen und anderen fiktionalen Geschichten nicht aus dem Hier und Jetzt des Reiselandes und Urlaubsortes wegführt, wo man doch im Gegenteil besonders intensiv die neue Umgebung, die fremden Menschen, Gerüche etc. wahrnehmen will.
Und eine Teilnehmerin erzählte von ihrer Mutter, die immer gesagt habe „Wieso lest ihr denn? Wir sind doch im Urlaub!“
Das ist mein Blick, während ich gerade diesen Blogbeitrag verfasse.
Als ich vor einer Viertelstunde eigentlich über etwas ganz Anderes schreiben wollte, sah ich über dem Rand meines Laptops – zwischen zwei Gitterstäben – ein kleines filigranes Spinnennetz, das vom Wind sanft bewegt wurde.
Carly Simons Song „Itsy Bitsy Spider“ summte sofort durch meinen Kopf und verband sich mit den beeindruckenden Spinnenskulpturen von Louise Bourgeois, zu deren künstlerischen Strategien ich gerade ein Seminar leite. Bourgeouis bewunderte diese Tiere, die alles, was sie zur Beschaffung von Nahrung benötigen, aus sich selbst generieren und dabei solche filigranen Kunstwerke schaffen. Hierin sah sie eine Verbindung zu Künstler*innen, die ihre Kunstwerke in letzter Konsequenz ebenfalls ausschließlich „aus sich selbst heraus“ produzieren. weiterlesen
17. September 2016
APPOLLONISCHE EFFEKTE
Gestern bin ich romantherapiert worden! In The School Of Life Berlin, unter Anleitung von Traudl Bünger, eine der drei Autorinnen des Buches Romantherapie.
The Novel Cure – so der Originaltitel – listet Romane, die bei emotionalen Symptomen wie Einsamkeit oder Liebeskummer, aber auch bei körperlichen Beschwerden wie Bluthochdruck oder Zahnweh auf literarische Weise heilen.
Dass Lesen heilsam sein kann, ist ein ebenso tröstlicher wie elektrisierender Gedanke. Neu ist er natürlich nicht.
So war bereits Apollon sowohl Gott der Dichtung als auch der Heilung und entsprechend Bruder im Geiste mit Therapeuten wie Viktor E. Frankl oder Bruno Bettelheim mit seinem Klassiker ’Kinder brauchen Bücher’ (gilt auch für Erwachsene). weiterlesen
09. September 2016
DER MITTELPUNKT DER ERDE
In diesem Sommer war ich zum ersten Mal auf Island. Und es vergeht seither kein Tag, an welchem ich nicht an diese Insel denke, die für mich im wahrsten Sinne des Wortes immer wieder atemberaubend war. Kein Tag, an welchem ich mich nicht mit Vulkangestein, Bergen, Gletschern, der klaren Luft und den hellen Nächten verbinde.
Und immer wieder reise ich gedanklich auch zum Snaefellsjökull, einem Berg im Westen der Insel. Denn hier befindet sich der Eingang zum Mittelpunkt der Welt. Beschrieben hat dies Jules Verne in seinem Roman Voyage au centre de la terre aus dem Jahr 1864.
Verne erzählt von Professor Lidenbrock, der in Hamburg Mineralogie und Geologie unterrichtet. weiterlesen
03. Juli 2016
ER SIE ES-BARE ERBEEREN
Sommerzeit – Erdbeerzeit. Plötzlich stehen überall in der Stadt diese Riesenerdbeeren: Verkaufshäuschen von Karls Erdbeerhof. Man kommt sich vor wie in einem wundersamen Märchenland. Die riesenrotgroßen Erdbeeren werden in Pappbehältern feilgeboten, die man in einer durchsichtigen Plastitktüte in die Hand gedrückt bekommt. Diese trägt man dann wie einen Kinderschatz nach Hause, hängt sie an den Fahrradlenker oder stellt sie in der U-Bahn auf die Oberschenkel, um gedankenverloren eine Erdebeere nach der anderen zu essen.
Manchmal heissen diese Märchendinger offensichtlich auch nur „Erbeeren“. Das erinnert mich an meine badische Heimat, in der man zu Erdbeeren Erbel sagt. Da fehlt ebenfalls das „d“. Oder handelt es sich vielleicht um eine spezielle Züchtung: besonders männliche Beeren? weiterlesen
26. Juni 2016
WAS UNS ALLE MITEINANDER VERBINDET
Danke an Alle, die mir gemailt und sich gewünscht haben, dass ich heute nochmals über Ulysses und einem weiteren prominenten Gast schreibe, den meine Seminarteilnehmerin in der Lufthansa FirstClass Lounge betreut hat (siehe letzter Blogeintrag).
Also Folgendes: sie fuhr gerade in einem Aufzug und als sich dieser öffnete, da stand… Achtung!… der Dalai Lama vor ihr.
Sie sagte, sie hätte ihn natürlich sofort erkannt und er hätte tatsächlich eine unglaubliche Ausstrahlung gehabt und… ja… er hätte sie gefragt, wo die Toiletten seien.
Allein die Vorstellung, dass sich die Tür eines Fahrstuhls öffnet und dann steht der Dalai Lama vor einem, ist unglaublich, geradezu metaphorisch und scheint direkt aus einem Traum zu kommen. weiterlesen
19. Juni 2016
GUMMIBÄRCHEN FÜR UNSERE JUNGS
Gestern bin ich von der Akademie Burg Fürsteneck zurückgekommen, wo ich eine Bildungswoche zum Thema Achtsamkeit und Kreativität geleitet habe und am Donnerstag Abend mit der gesamte Gruppe im Aufenthaltsraum saß, um unseren Jungs beim EM-Spiel gegen Polen zuzusehen.
Wir hatten Schwarzer Hahn (ein wunderbares Schwarzbier) vor uns stehen und waren mit Salzstangen und Wasabi-Nüssen ausgestattet. Es fehlten nur noch Gummibärchen, die ich aus einer der großen Schubladen herausfischte, als eine Teilnehmerin erzählte, dass sie vor kurzem die Deutsche Nationalmannschaft betreut habe.
Es stellte sich heraus, dass sie bei der Lufthansa die First Class Fluggäste betreut und natürlich wollten wir ALLES über die Jungs wissen und verpassten dabei sogar den Anpfiff, weiterlesen
10. Juni 2016
VON BRILLEN- und BLUMENPLANETEN
In dieser Woche habe ich die erste Lesebrille meines Lebens abgeholt. Ich habe mich letztlich für eine so genannte Arbeitsplatzbrille entschieden, eine Gleitsichtbrille also, die sowohl für das direkte Lesen als auch für die Arbeit am Bildschirm ausgelegt ist und darüber hinaus noch rund zwei Meter in den Raum einen einigermaßen unverschwommenen Blick erlaubt. Theoretisch jedenfalls. Die ersten Erfahrungen im Seminarraum-Kontext waren eher ernüchternd. Aber ich will eigentlich etwas Anderes schreiben. Nämlich dass ich entzückt war, als ich im Optik-Geschäft zum Probelesen einen Karton in die Hand gedrückt bekommen habe, auf welchem in verschiedenen Schriftgrößen Texte zu lesen waren und sich diese Texte als Ausschnitte aus einem der bekanntesten Bücher des 20. weiterlesen
03. Juni 2016
AUS FINANZ HAI WIRD FINANZ HAIKU
Dieser Zettel hängt zur Zeit an einem Bauzaun an einer Bushaltestelle in der Nähe der Berliner Fischerinsel. Und auch wenn diese Wörter mit großer Wahrscheinlichkeit auf die ebenso erschreckenden wie nüchternen Fakten der Machenschaften von Finanzinvestoren anspielen, die auf der Jagd nach Renditen über Firmen herfallen, wie es Franz Müntefering einmal ausgedrückt hat, so konnte ich doch nicht anders, als eine gewisse Bildhaftigkeit und Poesie in ihnen zu sehen, was sicherlich auch daran liegt, dass mir die Lyrik von Tomas Tranströmer in diesen Tagen sehr nah ist und ich gemeinsam mit Seminarteilnehmer*innen in die Welt der Haikus eingetaucht bin, die er ja ebenfalls geschrieben hat und die mich sowieso seit Jahren nicht mehr loslassen, weiterlesen
29. Mai 2016
LA BELLA TINA
Ich habe tatsächlich eine Antwort bekommen (siehe Blogbeitrag von letzter Woche)! Und wie angekündigt veröffentliche ich sie hier gerne.
Thomas Steffens von SC Events schreibt: „Unsere Frauenlauf-Website war bis vor einiger Zeit mit gendergerechtem Text versehen – danke für den Hinweis. Offensichtlich wurden hier im Zuge einer Umstrukturierung Änderungen vorgenommen bzw. neue Texte eingepflegt, die nicht berücksichtigen, dass es sich hier um einen Lauf nur für Frauen handelt. Ich werde dafür sorgen, dass der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt wird. Wir leiten Ihre Mail gerne an unseren Co-Sponsor Erdinger weiter.“
Na, das ist doch was! Da werde ich nächstes Jahr mit doppelter Freude und dann vielleicht sogar als Heldin mitlaufen können. weiterlesen
22. Mai 2016
BIN ICH EIN HELD?
Gestern habe am 33. AVON Frauenlauf Berlin teilgenommen und bin gemeinsam mit rund 17.000 anderen Frauen durch den Tiergarten gelaufen bis ich schließlich in der Nähe des Brandenburger Tors das große blaue Ziel-Linien-Tor des Sponsors Erdinger passiert habe. Ein wunderbarer und freudvoller Moment, den ich genossen habe…
… wäre da nicht dieser kleine Beigeschmack gewesen, der mir gestern nicht wesentlich war, mir heute aber umso mehr auf Zunge und Genderseele liegt: die Tatsache nämlich, dass dieses renommierte, professionelle und perfekt organisierte Event offensichtlich noch nie davon gehört hat, dass es das Wort ’Teilnehmer*innen’ gibt.
Umso grotesker, als diese Lauf ’Frauenlauf’ heißt, ausschließlich Frauen daran teilnehmen dürfen und sich dieser Charity-Lauf außerdem das so genannte Frauenthema Brustkrebs auf die Fahnen geschrieben hat. weiterlesen
13. Mai 2016
TREFFLICHKEIT KENNT KEINE GRENZEN
Gestern Abend habe ich zum ersten Mal die neu eröffnete Berliner Dependance der The School of Life London besucht. Wir Teilnehmer*innen haben gemeinsam mit dem Philosophen David Lauer über „Aristoteles – Die Wurzeln der Freundschaft“ diskutiert und unter anderem einen Auszug aus der Nikomachischen Ethik gelesen, in welchem Aristoteles über die so genannte Trefflichkeit spricht:
„Vollkommene Freundschaft ist die der trefflichen Charaktere und an Trefflichkeit einander Gleichen.“
Trefflich: eines dieser Wörter, die in unserer Alltagssprache kaum mehr vorkommen. Auf der so genannten Roten Liste der Bedrohten Wörter ist es allerdings noch nicht zu sehen. Hier hätte es seinen Platz hinter trätschen und Treber und vor Trümmerfrau und Tschüssikowski. weiterlesen
07. Mai 2016
ABSCHIEDE & GEBURTEN
Seit dieser Woche bin ich wieder zurück an meinen Arbeitsplätzen. Und gleich am Mittwoch war Start meiner LyrikLounge, in dessen Zentrum dieses Mal der Lyriker Tomas Tranströmer steht, der 2011 den Literaturnobelpreis erhalten hat und letztes Jahr gestorben ist. Für den ersten Termin habe ich unter anderem eine Film-Dokumentation über ihn ausgewählt, in der auch eines seiner Gedichte zu hören ist, in welchem er sozusagen die Geburt eines Gedichts beschreibt:
Gestern Abend lag ich in einer der Adlershof Filmstudios mit rund 30 anderen Gästen in einer großen Halle in völliger Dunkelheit. Wir lagen auf Rollrasen-bedeckten Metall-Liegen, versorgt mit dicken Socken und einer Decke. Und lauschten den 10 Musiker*innen des Ensembles Kaleidoskop, die unter anderem klassische Stücke spielten und sich dabei zwischen unseren Liegen bewegten.
’Now I lay me down’ heißt diese Produktion von Sabrina Hölzer, in der äußerer und innerer Raum wundersam miteinander verschmelzen.
Diese Verschmelzung von Außen und Innen werde ich auch ab nächsten Donnerstag erfahren. Auf der Berlinale. Und zwar auf wahrlich privilegierte und besondere Weise: als Berlinale Leserjury-Mitglied der Berliner Morgenpost.
Meine Aufgabe: gemeinsam mit den anderen 11 Jurymitgliedern alle Wettbewerbsfilme ansehen (drei pro Tag und einer ist 8 Stunden lang, weiterlesen
31. Januar 2016
„IM JRUNDE EJAL…“
Am Donnerstag kam der Gasmann zum Zählerstand ablesen.
Hier in Berlin sind die Gaszählerableser (im Gegensatz zu den Heizungs- und Wasserzählerablesern) meist ältere hagere Männer mit dünnem Pferdeschwanz unterm schwarzen Basecap und gelben Fingerkuppen vom jahrzehntelangen Kettenrauchen.
Unser Gaszähler befindet sich in der Küche. Angebracht in der Tiefe eines Regals hinter Stapeln von Kochbüchern, die wegzuräumen ich vergessen hatte. Das mache ich noch schnell (nein, er will kein Wasser und auch keinen Kaffee. „Nee, nur Jaszähler!“ sagt er und ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, natürlich hat er’s eilig und jede Sekunde zählt.)
„Hat man heutzutaje überhaupt noch Kochbücher? Dit findet man doch allet im Internet… weiterlesen
24. Januar 2016
ANLEITUNG ZUR ROMANTISIERUNG DER WELT
Am Freitag habe ich mir in Hannover das Stück „Remake.Romantik“ des Ensembles fensterzurstadt angesehen.
Eine klug-unterhaltsame multimediale Collage. Sehr zu empfehlen. Die beiden letzen Vorstellungen übrigens nächsten Mittwoch und Freitag. (Für Interessierte: hier der Trailer https://vimeo.com/147818612.)
Ein zentraler Satz in der Inszenierung, der meinem Gefühl nach Dreh- und Angelpunkt für die Auseinandersetzung mit dem Stoff war, ist Novalis’ berühmte Definition von Romantik, oder besser gesagt: seine Anleitung zum Romantisieren.
„Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“
Und das hat für Novalis nichts sentimental Kitschiges oder Nebulöses. weiterlesen
17. Januar 2016
THAT’S THE SPIRIT!
Während meines kurzen Städtetrips nach Barcelona zu Beginn diesen Jahres war ich auch im so genannten Camp Nou – dem Heimstadion des FC Barcelona. Hier habe ich am 09. Januar das Spiel gegen den FC Granada verfolgt und war beeindruckt: vom Stadion selbst, aber vor allem von den drei Spitzenspielern Lionel Messi, Neymar Jr. und Luis Suárez, die (ich hatte es nicht zu hoffen gewagt!) tatsächlich im Kader waren und zwar während des gesamten Spiels.
Deren millimetergenaues Zuspiel, das so leichtfüßig und selbstverständlich wirkt, als wäre es hingezaubert. Messi, der zwei Tage später zum fünften Mal Weltfussballer des Jahres wurde, mit drei Toren zum 4:0 in diesem Spiel beigetragen und mit diesem Hattrick seinen Ruf als Houdini des Fussballs unterstrichen hat. weiterlesen
20. Dezember 2015
ONOMATOPOETISCHES WEIHNACHTEN
Vorgestern war ich zum zweiten Mal bei meiner neuen Zahnärztin. Sie ist jung und hat für ihre neu eröffnete Praxis ein ambitioniertes Ausstattungs-Konzept. Liegt man beispielsweise auf dem Behandlungsstuhl und blickt zur Decke, sieht man direkt auf einen Flachbildschirm, auf dem irgendwelche Naturfilme laufen. Letztes Mal lief einer über Grizzly-Bären.
Ich schließe bei Zahnärzt*innen grundsätzlich lieber die Augen, als dass ich über und neben mir Flutlichter, Bohrer, Speichelschläuche und Schutzbrillen sehe, aber vorgestern werfe ich trotzdem einen kurzen Blick auf den Bildschirm, bevor ich meinen Mund öffne, und sehe einen Riesenwal, der gerade sein Maul aufreißt (wirklich wahr!). Darunter die Bildunterschrift „Das größte Säugetier der Welt ernährt sich vornehmlich von den kleinsten Lebewesen: Krill.“
Alexandra Cedrino-Nahrstedt, eine Seminarteilnehmerin, die wunderbar schreibt und fotografiert, zeigt mir am Mittwoch ein Handy-Foto, das sie in der Nähe des Ku’damm aufgenommen hat: eine fotografische Antwort auf meinen Blogbeitrag von letzter Woche. Als sie mir später das Foto für den heutigen Blogeintrag mailt, schreibt sie dazu: „Ich glaube, der Anblick empört mich so, da es mit dem Bild der Frau als ’blanker’ Projektionsfläche für Konsumansprüche spielt! Durch die ‚abgetrennten‘ Arme kommt es mir noch brutaler vor, da der ‚Frau‘ dadurch irgendwie die Möglichkeit der Gegenwehr genommen wird.“
Einen Tag später, am Donnerstag, erhält Swetlana Alexijewitsch den Literaturnobelpreis „ für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt.“ Alexijewitsch, weiterlesen
07. Dezember 2015
MÄNNER OHNE EIGENSCHAFTEN
Nächsten Mittwoch beginnt mein Buchclub zu Musils Mann ohne Eigenschaften. Nach Ulysses von James Joyce der zweite Mammutroman alias Jahrhundertroman alias 1000-Seiten-Schmöker, den ich mir selbst zur Freude und mir selbst zur Qual ausgewählt habe.
Denn eins steht fest: nimmt man sich ein solches Buch vor und versucht, dessen viele Dimensionen auszuloten, dann hat dies einige Zeit lang starken Einfluss auf das eigene Leben: auf die Gedanken, die kommen und gehen. Auf Art und Weise der Ideen, die sich entwickeln. Und auf die Art und Weise, wie Welt, Umwelt und Mitmenschen wahrgenommen werden.
Man könnte auch sagen: der Möglichkeitssinn in Bezug auf das eigene Leben verschiebt sich. weiterlesen
07. Dezember 2015
MÄNNER OHNE EIGENSCHAFTEN
Nächsten Mittwoch beginnt mein Buchclub zu Musils Mann ohne Eigenschaften. Nach Ulysses von James Joyce der zweite Mammutroman alias Jahrhundertroman alias 1000-Seiten-Schmöker, den ich mir selbst zur Freude und mir selbst zur Qual ausgewählt habe.
Denn eins steht fest: nimmt man sich ein solches Buch vor und versucht, dessen viele Dimensionen auszuloten, dann hat dies einige Zeit lang starken Einfluss auf das eigene Leben: auf die Gedanken, die kommen und gehen. Auf Art und Weise der Ideen, die sich entwickeln. Und auf die Art und Weise, wie Welt, Umwelt und Mitmenschen wahrgenommen werden.
Man könnte auch sagen: der Möglichkeitssinn in Bezug auf das eigene Leben verschiebt sich. weiterlesen
29. November 2015
MENSCH-MASCHINE
Heute schon wieder ein Blogeintrag mit Bahnhofsbezug – sorry, aber es muss sein! Weil es nämlich einfach zu verblüffend war, dass ich gestern gegen 18 Uhr auf dem Berliner Hauptbahnhof im Tiefgeschoss Sascha Lobo gesehen habe, der eine Frau umarmt, die gerade mit mir aus dem ICE aus Hamburg gestiegen ist.
Lobo, einer der bekanntesten deutschen Blogger*innen und medienkritischen Expert*innen zum Thema Internet. Omnipräsent in Talkshows und dies nicht zuletzt wegen seines roten Irokesenschnitts, für den er sich nach eigener (selbstironischer) Aussage „aus Marketinggründen“ entschieden hat.
In Hamburg hatte ich am Abend zuvor eines der extrem seltenen Konzerte der deutschen Band Kraftwerk besucht, von der ich bereits seit den 80ern fasziniert bin, weiterlesen
29. November 2015
MENSCH-MASCHINE
Heute schon wieder ein Blogeintrag mit Bahnhofsbezug – sorry, aber es muss sein! Weil es nämlich einfach zu verblüffend war, dass ich gestern gegen 18 Uhr auf dem Berliner Hauptbahnhof im Tiefgeschoss Sascha Lobo gesehen habe, der eine Frau umarmt, die gerade mit mir aus dem ICE aus Hamburg gestiegen ist.
Lobo, einer der bekanntesten deutschen Blogger*innen und medienkritischen Expert*innen zum Thema Internet. Omnipräsent in Talkshows und dies nicht zuletzt wegen seines roten Irokesenschnitts, für den er sich nach eigener (selbstironischer) Aussage „aus Marketinggründen“ entschieden hat.
In Hamburg hatte ich am Abend zuvor eines der extrem seltenen Konzerte der deutschen Band Kraftwerk besucht, weiterlesen
23. November 2015
WIR BITTEN UM VERSTÄNDNIS
„Information für ICE (Nummer Sowieso), von München auf der Weiterfahrt nach Berlin. Dieser Zug verspätet sich voraussichtlich um (… kurze Pause…) 50 Minuten. Grund dafür ist eine Signalstörung. Wir bitten um Verständnis.“
Diese Durchsage hat mich vor drei Tagen gegen 14 Uhr auf Gleis 4 am Hauptbahnhof Fulda betroffen. Mit mir warteten eine Menge Freitags-Reisende. Einige davon äußerten sich spontan dazu.
Meiner Erfahrung nach gibt es in einer solchen Situation drei verschiedene Reaktionstypen: die einen ereifern sich in ausholenden und blumigen Worten über die Unpünktlichkeit der Bahn im Allgemeinen. Die Anderen rekapitulieren detailverliebt die Hindernisse ihrer heutige Reise im Besonderen. weiterlesen
15. November 2015
DRÜBER & DRUNTER
Am Freitag Abend wusste ich, worüber ich in meinem heutigen Blog schreiben würde: über die seltsame Koinzidenz des DRÜBER & DRUNTER in einem Bilderbuch und in der Außenwelt. Freitag Nacht, als ich in meinem Hotelbett in Stuttgart lag und die Berichterstattung über die Pariser Anschläge verfolgte, wusste ich, dass mir ein solcher Blog viel zu harmlos sein würde.
Jetzt sitze ich in der Eingangshalle der Akademie Fürsteneck in Hessen an einem öffentlichen Rechner und ich denke: es passt irgendwie doch. Und ich will Ihnen sagen, warum.
DRÜBER & DRUNTER: so lautet der Titel eines der Bilderbücher, die ich im Rahmen meiner Vorleseseminare an der Stuttgarter Stadtbibliothek vorgestellt hatte. weiterlesen
07. November 2015
PASST SICH AUTOMATISCH DEM EIGENEN LESETEMPO AN
Vorgestern gegen 14:00 im Bus M27:
„Welches Buch gibt es in keiner Bücherei?“ fragt ein circa 9jährige Mädchen ihre Mutter. Beide sitzen mir schräg gegenüber. Das Mädchen hat schon mehrere Fragen von einem großen Blatt abgelesen, das es aus einer vollbepackten Scout-Schultasche gezogen hatte. „Welcher Stuhl geht immer hoch und runter?“ (Fahrstuhl). „Welcher Mann kann nicht sprechen?“ (Schneemann). Bei jeder Frage schwang ein bisschen die Hoffnung mit, dass ihre Mutter die Antwort vielleicht nicht weiß (jedenfalls habe ich mir das eingebildet). Aber die Mutter wusste alle Antworten. Bis zu dieser Frage, welches Buch es in keiner Bücherei gibt.
Ich komme gerade von ein paar Tagen Yogaretreat auf Mallorca zurück. Neben vielem anderen hat mich an diesen Tagen unser so genanntes monkey mind beschäftigt. All unsere wandelbaren Gedanken, die permanent wie Affen in unserem Kopf herumspringen und kreischen. Um diese Gedanken im Zustand der Meditation und des Yoga zu beruhigen, gibt es das schöne Mantra: Chitta Vritti Nirodhah. Was in etwa bedeutet: mögen alle Trübungen (Vritti), die im Wandelbaren des Menschen (Chitta) bestehen, zur Ruhe kommen (Nirodhah).
Immer wenn ich am Pool lag, habe ich mir dieses Mantra innerlich vorgesungen und dabei in die Palmen gesehen, die sich im Wasser gespiegelt haben. Ich sah die Affen, weiterlesen
23. Oktober 2015
WAS WAHRLICH UNWAHRSCHEINLICHES
Als ich letzten Sonntag meinen Koffer für die Akademie Burg Fürsteneck packe, um dort eine Bildungswoche zum Thema Kreativität und Achtsamkeit zu leiten, suche ich nach einem Bettlektüre-Buch.
Ich kann nicht sagen, dass meine Bibliothek klein ist oder ich bereits alle Bücher gelesen habe, und doch: ich habe kein passendes Buch gefunden (es ist wohl so ähnlich wie mit den großen Kleiderschränken, in denen dann doch nicht das Passende zu finden ist.) Also blieb mir nichts anderes übrig, als noch schnell vor Abfahrt im Bahnhof ein Buch zu kaufen (jawohl, man findet immer einen Grund, um ein neues Buch zu kaufen!) Unter allen Büchern hat mich nur ein einziges angezogen: Haruki Murakamis Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. weiterlesen
17. Oktober 2015
WIEDERKOMM’M
Auf meinen im letzten Blog dezent (?) eingeflochtenen Hinweis, dass Ringelnatz nicht zu meinen Lieblingsdichtern gehört, gab es einigen Protest. Eine Leserin will beispielsweise „eine Lanze für good old Ringelnatz brechen.“ und schreibt, dass sie als Kind den kleinen Kuttel Daddeldu „seeeehr geliebt“ habe.
Ringelnatz erfindet als Kabarettist diesen knurrigen Seemann, den er auf der Bühne auch selbst spielt. Erstmals taucht er 1920 in seinem Gedicht Vom Seemann Kuttel Daddeldu auf. Unter anderem durch die Figur Daddeldu wird Ringelnatz berühmt – bis ihn das Nazi-Auftrittsverbot zum Aufhören zwingt.
Doch seine Kunstfigur lebt weiter: 1963 erweckt sie Hans Krause Kabarett-Autor und Chef des Berliner Kabaretts Distel, weiterlesen
10. Oktober 2015
NASENFLÜGELBEBEN
Die vergangene Woche habe ich in Stuttgart verbracht, um dort an der architektonisch beeindruckenden Stadtbibliothek am Mailänder Platz insgesamt 7 Workshops für ehrenamtliche Vorleser*innen zu leiten.
Übernachtet habe ich in einem Motel One. Als ich am ersten Morgen in den Frühstücksraum komme, sehe ich über der Müsliecke ein kleines Gedicht von Ringelnatz an der Wand (es heißt Morgenwonne, wie ich gerade herausgefunden habe).
„Aus meiner tiefsten Seele zieht mit Nasenflügelbeben ein ungeheurer Appetit nach Frühstück und nach Leben.“
Ich habe mich an allen fünf Frühstücken auf einen Platz gesetzt, von dem aus ich einen guten Blick auf dieses Gedicht hatte, um es als eine Art Tagesmotto in mein Frühstück einfließen zu lassen. weiterlesen
03. Oktober 2015
INS LAUFEN GEKOMMEN
Tag der Deutschen Einheit. Ich habe mich für einen Feldenkrais-Tagesworkshop zum Thema Laufen angemeldet und steige kurz vor 10 Uhr in Prenzlauer Berg am Senefelder Platz aus der U-Bahn. Überall eine Menge Plakatierungen, alle bunt. Deshalb stechen mir auch die drei weißen Plakate sofort ins Auge, die nebeneinander geklebt sind und auf denen steht: „Tag der Deutschen Einheit. Einfalt. Vielfalt.“ Diese drei Wörter untereinander und in eckigen Klammern geschrieben, wie ein Lexikoneintrag. Und am unteren Plakatrand die Aufforderung „Sag was! Schreib mir was dir dazu einfällt.“
Den Menschen sind ausschließlich Graffitis und kryptische Zeichen dazu eingefallen, was allerdings gut aussieht auf der weißen Fläche der Plakate.
27. September 2015
ANNA IN WONDERLAND
Heute Vormittag Berlin Marathon. Ich verfolge ihn im Fernsehen, bis die schnellste Deutsche durchs Ziel gelaufen ist. ANNA heißt sie. Das steht unter ihrer Startnummer. Anna? Tatsächlich: auf allen Shirts stehen die Vornamen, nicht die Nachnamen. Sehr ungewöhnlich finde ich das. War das schon immer so?
Der Grund könnte vielleicht sein, dass dieser Marathon von BMW gesponsert wird und BMW jedem einzelnen Auto seiner Carsharing-Flotte Drive Now einen individuellen Vornamen gibt. Das erhöht die Bindung. Und das funktioniert ja auch irgendwie bei den Marathonläufer*innen. Ich kann mir sicherlich wesentlich besser merken, dass eine Anna beste Deutsche war als eine Frau Hahner.
Anna erinnert mich außerdem ein bisschen an Alice, weiterlesen
20. September 2015
DIE GRENZEN DER RELATIVITÄTSTHEORIE
Am Dienstag trug ich an meinem linken Handgelenk zwei Armbanduhren, als ich im U-Bahnhof Kurfürstendamm auf einer Bank saß, um auf die Bahn zu warten. Als ich meinen Jackenärmel hochschob und nach der Uhrzeit sah, sprach mich die etwa 60jährige Frau an, die links neben mir saß.
„Zwei Uhren?“, fragte sie schlicht. Als erstes fielen mir ihre dunklen Augen auf und ihr Blick, den man klassischerweise als wach und offen bezeichnen würde. Sie war klein, hatte eine weiche Ausstrahlung und ein Tuch um ihren Kopf geschlungen.
„Ja“, sagte ich ebenso schlicht und lächelte sie an.
„Haben Sie Familie in Amerika?“ Ihr Deutsch ließ vermuten, weiterlesen
13. September 2015
NICHTS
Freitag Abend in Hamburg. Premiere von ’NICHTS. Was im Leben wichtig ist’ am JungenSchauSpielHaus Hamburg. Dieses Stück, das auf dem preisgekrönten Jugendroman der Dänin Janne Teller beruht (2010 bei Hanser auf Deutsch erschienen), hat in den letzten Jahren Furore gemacht, war in Dänemark zeitweise verboten, ist mittlerweile Schulstoff und aufgrund seiner ausgeprägt nihilistischen Aussagen nach wie vor heftig umstritten.
Worum geht es? Auf der Website des Theaters steht Folgendes: In der fiktiven dänischen Kleinstadt Tæring steht der 13-jährige Pierre Anthon plötzlich von seinem Stuhl auf und weigert sich, weiterhin in die Schule zu gehen. Er nistet sich von nun an in einem Pflaumenbaum ein und behauptet, weiterlesen
05. September 2015
DRINNEN ODER DRAUSSEN
Zurück aus meiner Sommerpause! Das bedeutet unter anderem auch: ab sofort mehr Drinnen und weniger Draußen. Und doch ist mir gerade in diesem Sommer an vielen Orten aufgefallen, wie ein Draußen zu einem Drinnen werden kann.
Beispielsweise durch diese speziellen Gartenmöbel, die aussehen wie kuschelige Sofas. Mit riesengroßen Kissen und aus einem Material, das nass werden darf. Und außerdem durch etwas, das seit rund zehn Jahren einen echten Siegeszug durch öffentliche Draußen-Räume hält: Bücherregale. Gedacht zum kostenlosen Buchtausch. Hier in Berlin in nahezu jedem Kiez und mittlerweile auch in kleinen Städten selbstverständlich.
Es gefällt mir, wie das klassische Bücherregal – ein typischer „Drinnengegenstand“ – weiterlesen
27. Juni 2015
DIE WAHRHEIT IM EIERSALAT
Nichtsahnend öffne ich vorgestern für ein rustikales Frühstückspicknick den Eiersalat-Brotaufstrich der Marke Popp, als mir auf der Schutzfolie, die direkt über dem Salat klebt, folgender Satz entgegenblickt: „Wenn der Tag aufhört, fängt das Erzählen an.“
Darunter die Aufforderung „Esst zusammen Abendbrot“.
Abgesehen davon, dass ich gerade lieber Frühstück statt Abendbrot essen wollte, fand ich es doch erstaunlich, plötzlich mit solch einer gewagten These (nämlich dass das Erzählen anfängt, wenn der Tag aufhört. Ist das so?) und zusätzlich mit solch einem expliziten Appell konfrontiert zu sein (der mich an die grünen Papiertüten erinnert, auf denen „Esst mehr Obst“ steht). Erstaunlich außerdem, dass ich automatisch geduzt werde (was mich in Überlegungen zur Zielgruppe von Eiersalat gestürzt hat. weiterlesen
20. Juni 2015
HAPPY LIZARD DRINK YOUR SUN
Gestern Abend bin ich zurückgekommen von der Akademie Burg Fürsteneck. Dort habe ich eine Bildungswoche zum Thema „Work-Life-Balance durch Achtsamkeit & Kreativität“ geleitet. Ein zentrales Thema dabei ist natürlich der Aspekt der Gegenwart, des gegenwärtigen Augenblicks und die damit verbundene Frage, in wieweit wir diesen Augenblick leben, im Idealfall sogar geniessen können.
Dies war auch Thema am Dienstag, als ich abends die Mail einer Klientin lese, die sich gerade in der Provence aufhält und dort das Haus von Frédéric Mistral besucht hat. Mistral, neuprovenzalischer Dichter und Linguist, hat 1904 den Literaturnobelpreis erhalten für „die frische Ursprünglichkeit, das Geistreiche und Künstlerische in seiner Dichtung“. Ihm lag die provenzalische Sprache mit all ihren Dialekten so sehr am Herzen, weiterlesen
12. Juni 2015
„DAS MACHT MICH VÖLLIG VÖLLIG BESESSEN.“
Das hat Herta Müller am Mittwoch Abend in der Urania Berlin über ihre Wort-Collagen gesagt, die im Zentrum der Veranstaltung standen und die für sie „eine Notwendigkeit“ seien. Gesagt hat sie es in dieser ihr eigenen Mischung aus emotionaler Leidenschaft und kristallklarer Sprache.
Aber was genau macht sie besessen? Die „Sinnlichkeit dieser Arbeit mit den Wörtern“. Die immer wiederkehrende Erfahrung, ein bestimmtes Wort zu suchen und dann ein anderes zu finden, das passt. Ihr Empfinden, dass die Wörter „ihren Einfluss ausüben… die sind schlau… die machen mich fertig!“
Wörter, die sie aus Zeitschriften ausschneidet und die sie ganz zu Anfang auf einem Hackbrett ausgebreitet hat, weiterlesen
07. Juni 2015
„KOMM, HALTE MIR EINEN MONOLOG! ICH WILL ZUHÖREN.“
Vorgestern habe ich einen Workshop im Rahmen einer Mediationsausbildung geleitet. Thema: Perspektivwechsel. Dieser spielt sowohl in der Mediation als auch im Kreativen Schreiben eine zentrale Rolle.
Um mich in eine andere Figur, Person, Konfliktpartei hineinzuversetzen, muss ich einen Perspektivwechsel vornehmen. Ich muss von meiner eigenen Sicht auf die Welt, die Dinge, den Konflikt absehen können und in die Gefühls- und Gedankenwelt meines Gegenübers so authentisch wie möglich eintauchen.
Eine wunderbare Möglichkeit dafür ist der Innere Monolog. Im Inneren Monolog wird die Gefühls- und Gedankenwelt – man könnte auch sagen: das mindset – einer Figur in ihrer Vielschichtigkeit so deutlich wie nirgendwo sonst.
Letzten Sonntag habe ich im Festspielhaus Baden-Baden Bruckners Neunte Sinfonie gehört. Im Programmheft ist von der „geheimnisvollen Neunten“ die Rede: „Der Nimbus einer ultimativen Neunten schwebt über dem Werk. Seit Beethoven galt eine Sinfonie mit dieser Nummer als eine Grenze, die keiner zu überschreiten wagte.“ Dies schrieb Arnold Schönberg anlässlich des Todes von Gustav Mahler, der sein Werk mit einer Neunten abgeschlossen hatte und über der Zehnten starb. Seine These: „Diejenigen, die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe, und in einer Zehnten könne etwas gesagt werden, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind.“
Immer mal wieder habe ich in dieser Woche darüber nachgedacht, weiterlesen
23. Mai 2015
„DES OI ODDA ANNER STÜNDLE ZUM DRAIMA…“
Ich bin dieses Pfingsten in meiner Kraichgauer Heimat und besuche unter anderem ein weitläufig verwandtes älteres Ehepaar, Inge und Walter, das ein klassisches dörfliches Leben lebt und gleichzeitig aufgeschlossen ist für alle möglichen Themen.
Wir unterhalten uns über das Lesen und darüber, dass Frauen lieber Romane lesen und Männer lieber Sachbücher. Ich frage die beiden, was ihre Meinung ist, woran das liegen könnte.
Walter hat eine Theorie und die formuliert er auf so wunderbar einfache und ebenso humorvolle wie überzeugende Art und Weise, dass ich ihn bitte, es nochmal für mich zu sagen, damit ich es mit meinem Handy-Mikrofon aufnehmen kann. Das tut er schmunzelnd und so kann ich ihn hier wörtlich zitieren – weiterlesen
15. Mai 2015
DER LIBROMAT
Nachdem ich letzten Sonntag auf dem Flohmarkt einige Bücher verkauft hatte (siehe mein letzter Blogeintrag), habe ich mich in dieser Woche gefragt, was ich mit dem eingenommenen Geld machen möchte (o.k., nach Abzug von Standmiete und Mietauto ist nicht allzu viel übrig geblieben, aber immerhin). Irgendetwas Schönes soll es sein… etwas Passendes… etwas Symbolisches…
Und ich dachte: was wäre passender als ein Buch?
Eines, das eben JETZT zu mir passt und den Weg zu mir findet, weil andere Bücher, die NICHT mehr zu mir passen, den Weg zu Jemand Anderem gefunden haben.
Ja, es stimmt. Ich neige dazu, solche Dinge auf etwas übertriebene Weise aufzuladen. weiterlesen
11. Mai 2015
BOBO & BOB
Nach zwei Wochen Urlaub war meine vergangene Woche stark geprägt durch das Aussortieren meiner gesamten privaten Bibliothek. Ich war wild entschlossen, all meine Bücher durchzusehen und möglichst viele auszusortieren, um sie auf dem gestrigen Kiez-Flohmarkt in Moabit anzubieten. Wer mich kennt, weiß, dass ich im Zeichen der Sammlerin geboren bin und nicht im Zeichen der Aussortiererin. Entsprechend ungewohnt, verbunden mit einer Menge Überlegungen und Abwägungen und mit noch mehr Erinnerungen habe ich mich durch die Tage und Bücherstapel gearbeitet, um schließlich gestern an einem kalten, windigen, grauen Sonntag meine rund 580 aussortierten Bücher anzubieten und zu sehen, was passiert.
Am attraktivsten waren aktuelle Romane und vor allem meine Bilderbücher, weiterlesen
16. April 2015
WONNE UNENDLICHKAIT
Letzten Sonntag habe ich über die Sprache als Waffe geschrieben.
Am Montag ist Günter Grass gestorben.
Am Dienstag schreibt die BILD: „Die deutsche Sprache hat ihre schärfste Waffe verloren.“
Am Donnerstag erscheint in der ZEIT das letzte Interview mit dem Autor. Die Überschrift lautet: „Man muss ins Herz treffen.“
Ja, vielleicht ist es genau das: Sprache als eine Waffe, die man nicht benutzt, um zu töten oder zu verletzen. Sondern um ins Herz zu treffen. Auch in das eigene.
Günter Grass hatte sein letztes Werk beinahe fertiggestellt. Es trägt den Titel Vonne Endlichkait.
Ich wünsche ihm eine Wonne Unendlichkait.
12. April 2015
BUCH IST SPRACHE IST WAFFE IST AXT
„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Über dieses berühmte Zitat von Franz Kafka habe ich in dieser Woche nachgedacht, als ich einen detaillierten Stundenplan für mein Wochenseminar „Ich schreibe, also bin ich.“ entwickelt habe. Ein Einführungsseminar in die Welt des Kreativen Schreibens, das ich im November an der Akademie Burg Fürsteneck in Hessen leiten werde und das als Bildungsurlaub anerkannt werden soll (deshalb ist bereits zu diesem frühen Zeitpunkt solch ein detaillierter Stundenplan erforderlich – falls Sie diese Information interessiert).
Ich fand dieses Zitat schon immer ambivalent. Will ich tatsächlich ein Buch als Axt benutzen, um das gefrorene Meer in mir zum Bersten zu bringen? weiterlesen
04. April 2015 Ostersamstag
WE CAN BRING YOU (B)YERS
Ich finde es immer wieder erstaunlich, welchen Einfluss äußere Umstände auf die konkrete Rezeption eines Textes haben. Dies kann sich im Großen zeigen: wenn ich beispielsweise unter bestimmten Lebensumständen und nach spezifischen Lebenserfahrungen ein und dasselbe Buch vollkommen anders lese als Jahre zuvor.
Aber es kann sich auch im Kleinen, ganz Kleinen zeigen, wie beispielsweise heute, als ich in einem dm-Markt in Moabit all die Osterartikel sehe (nachdem ich bereits auf dem Weg dorthin all die Osterdekorationen in den Schaufenstern gesehen… und in den letzten Wochen all die Osterhasen an den Kassen… und außerdem die vielen „Frohe Ostern!“-Grüße und Verabschiedungen… undundund).
Als ich am Donnerstag im ICE nach Frankfurt auf dem Weg zum Bistro einem Mann mit Koffer ausweiche und kurz stehen bleiben muss, sehe ich eine Frau am Fensterplatz, die auf kleine verschiedenfarbige Karteikärtchen einzelne oder mehrere Wörter schreibt. Das macht mich natürlich neugierig. So bleibe ich etwas länger neben ihrem Sitz stehen als es eigentlich nötig gewesen wäre (der Mann mit dem Koffer war längst vorbei) und kann tatsächlich etwas erkennen: Dance like a prayer schreibt sie mit schneller und entschiedener Handschrift auf eines der Kärtchen.
Dance like a prayer. Als erstes denke ich an Derwische. Aber ist die Trance, in die sie sich tanzen, weiterlesen
21. März 2015
PSEUDONYME
In meinem derzeitigen Seminar Einführung ins Literarische Schreiben geht es unter anderem um die Entwicklung von Figuren. Dabei spielt der Name, den man für eine Figur findet, eine wesentliche Rolle. Auch hier gilt ’nomen est omen‘, denn wir Leser*innen assoziieren ganz automatisch und meist unbewusst mit einem Namen bestimmte Eigenschaften. Dessen sollte man sich bewusst sein und entsprechend bedacht und durchaus auch strategisch bei der Namenwahl vorgehen.
Passend zu diesem Themenkomplex stand vor wenigen Tagen plötzlich ein Name vor mir, als ich am Zellengefängnis Lehrter Straße in Moabit vorbeigeradelt bin. In großen Lettern, geklebt auf das Gefängnistor: Udo Honig.
Aufgrund all der Equipment- und Cateringautos entlang des Gefängnisses war klar, weiterlesen
16. März 2015
LEIDENSCHAFT UND PRAGMATISMUS
Ein Coaching-Klient hat mir einen interessanten Artikel mitgebracht: im Namen der Überschrift „Schreiben kann man lernen“ erzählt die Bestsellerautorin Leah Cohn beispielsweise davon, dass sie „ohne die Aussicht, dass ein Manuskript erfolgreich vermittelt werden kann“, gar nicht zu schreiben beginnt. Und auf die Frage „Eine pragmatische Entscheidung also?“ sagt sie: „Wenn man in diesem Geschäft bestehen will, gehört neben Leidenschaft auch Pragmatismus dazu. Man sollte sich als Autor schon fragen: Was lesen die Leser gerade gern, was läuft auf dem Markt? Aber das Thema muss mich begeistern.“
Zum Wochenende für Sie also wiederum ein Wunsch: nämlich eine gelungene Balance zwischen Leidenschaft und Pragmatismus für Ihr Schreiben!
Seit einigen Tagen bin ich in Düsseldorf. Und vorgestern auf dem Weg zum fft Freies Theater komme ich an einem Briefmarken- und Münzgeschäft vorbei, in dessen Schaufenster ein mit zittriger Hand geschriebener Zettel klebt. ’Andorra eingetroffen’ steht da.
Denken Sie beim Namen Andorra ebenfalls als erstes an Max Frisch und sein gleichnamiges Drama? Ich sehe sofort das blaue Suhrkamp Taschenbuch vor mir, während ich noch spekuliere, dass vermutlich besondere Briefmarken aus Andorra gemeint sind (und später herausfinde, dass seltene Briefmarken aus Andorra bis zu 1.000 US Dollar wert sind.)
In seinem Stück Andorra erzählt Frisch vom jungen Andri, der von seinem Vater unehelich mit einer Ausländerin gezeugt wurde und deshalb von diesem als jüdischen Pflegesohn ausgegeben wird. weiterlesen
07. März 2015
FLANIEREN UND PASSIEREN
Im Rahmen des 100 Grad Festivals in den Sophiensälen habe ich an einer speziellen Performance der Écoleflâneurs teilgenommen. Ausgestattet mit einem pink angemalten Spazierstock bin ich mit einem der drei Performer schweigend durch die Straßen flaniert. Nach einer halben Stunde hat er sich von mir verabschiedet. Einfach so. Ein schönes, stilles Erlebnis. Gemeinsame Zeit mit einem Fremden, ohne mit ihm zu sprechen.
Das Thema Flanieren beschäftigt mich seit langem. Als Möglichkeit der Entschleunigung, als Wahrnehmungsschulung, als Mittel zur Selbstbeobachtung. Interessant finde ich unter anderem, dass der Flaneur als solcher eine typisch männliche Figur ist. Man sieht ihn vor sich, wie er schlendernd und beobachtend durch die Großstadtstraßen des 19. weiterlesen
28. Februar 2015
WOMANLY-MANLY OR MAN-WOMANLY
In diesen Tagen lese ich intensiv Alice Munros Short Stories, die im Zentrum meines aktuellen Buchclubs stehen. Gerade habe ich im Licht der untergehenden Sonne ’Das Büro’ gelesen. In dieser Erzählung geht es um eine Frau, die sich ein Zimmer mietet, um dort in Ruhe schreiben zu können. Ihr fällt es schwer, sich diesen Wunsch selbstbewusst zu erlauben und ihn nicht als unzulässigen Luxus abzutun.
Und noch schwerer fällt es ihr, die Worte auszusprechen „Ich bin Schriftstellerin.“ Denn: „Das klingt nicht richtig. Zu anmaßend; unecht oder zumindest wenig überzeugend. Nächster Versuch. Ich schreibe. Ist das besser? Ich versuche zu schreiben. Das macht es nur schlimmer. Geheuchelte Bescheidenheit. Also wie nun?“
Diese Geschichte steht meines Erachtens in enger Verbindung zu Viriginia Woolf’s Essay A Room of One’s Own, weiterlesen
22. Februar 2015
DIE INNENSEITE DER AUGENLIDER
Am Wochenende war ich wieder in Hamburg. Dieses Mal zur Premiere von Himmel (siehe Blogeintrag vom 06. Februar). An der Bushaltestelle, an der ich gestern auf den Bus zum Bahnhof Altona warte, kommt ein junger Mann dazu. Schätzungsweise Mitte 30, in heller Sommerbekleidung, leichten Schuhen, einer Holzperlenkette um den Hals und einem sannyassin-haften nach innen gerichteten Lächeln im Gesicht. Als ich ihn sehe fällt mir spontan der Buchtitel ’Alles ist erleuchtet’ ein. Er steigt hinter mir in den Bus und wir bleiben nebeneinander stehen.
Ich habe mich schon auf die Busfahrt gefreut, denn in Altona fahren seit einer Weile rund 100 ganz besondere Busse: ausgestattet mit einem Bücherregal, weiterlesen
15. Februar 2015
WO FRAU GEMEINT IST SOLLTE AUCH FRAU GENANNT SEIN
Gestern ging die Berlinale zu Ende. Dieses Jahr konnte ich leider keinen einzigen Film sehen, stattdessen ist mir umso häufiger die Aktion ProQuote aufgefallen. Zum ersten Mal in einer U-Bahn. Auf einem Nachrichtenbildschirm las ich eine Kurznachricht mit der Überschrift „Berlinale entdeckt ihre weibliche Seite.“, denn dieses Jahr stamme ein Viertel der Beiträge von Frauen. Dazu der Kommentar “Die Berlinale wird weiblich“.
Wie beschämend und bezeichnend: es genügt offensichtlich ein Viertel weiblicher Beiträge, um bereits von einer weiblichen Berlinale zu sprechen.
Die Aktion ProQuote, deren Ziel die Gleichstellung von Frauen und Männern in Medienberufen ist und der sich auch Berlinale-Leiter Dieter Kosslick angeschlossen hat, hat nicht nur mediales Aufsehen, weiterlesen
06. Februar 2015
GEDICHTE ALS TERRORWAFFE
In dieser Woche habe ich von Hamburg aus gearbeitet und hatte die Gelegenheit, Proben für ’Himmel’, ein Stück von Wajdi Mouawad, zu verfolgen, das am 20. Februar am Jungen Schauspielhaus Hamburg Deutschlandpremiere haben wird. ’Himmel’ handelt von einem Team aus Geheimdienstmitarbeiter*innen, die die globale Kommunikation auf der Suche nach versteckten Botschaften scannen und die versuchen, die Nachrichten einer Terrorgruppe zu entschlüsseln, um bevorstehende Anschläge zu verhindern. Dabei entdeckt ein junger Dekodierungsexperte, dass global vernetzte Terroristen Gedichte nutzen, um ihre Anschlagspläne zu verschlüsseln.
Das Stück untersucht das Verhältnis von Kunst und Gewalt in einer durch Terror und Überwachung tief verunsicherten Welt. So steht es auf der Website des Hamburger Schauspielhauses. weiterlesen
30. Januar 2015
WANN IST EIN BRIEF EIN BRIEF?
Vor wenigen Tagen habe ich von einem ehemaligen Klassenkameraden eine Mail erhalten. In deren Betreffzeile stand lediglich das Wort ’Grüße’. Als Text las ich: Viele Grüße aus Karlsruhe! Weiteres im Anhang. (Dazu noch der Name des Absenders.) Der Name der angehängten Datei lautete: BriefSandra.doc
Unabhängig davon, dass ich mich über diese Post sehr gefreut habe, frage ich mich, WAS ich eigentlich erhalten habe: eine Mail oder einen Brief? Oder beides? Für ersteres spricht, dass ich die Post in meinem Mailaccount gefunden habe, und alles, was darin zu finden ist, ist eine Mail. Aber ist es so einfach?
Für zweiteres spricht, dass die Nachricht ein geschriebener Brief ist, weiterlesen
24. Januar 2015
KREATIVE SOLIDARITÄT
In dieser Woche sind nicht mehr ganz so viele „Ich bin Charlie“- Schilder, Transparente und Aufkleber zu sehen wie noch in den beiden Wochen zuvor. Die äußerlich sichtbare symbolische Drei-Wort-Solidarität nach dem Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo ist verblasst.
Umso überraschter war ich, als ich im Idee-Kreativmarkt (ja, ein schreckliches Wort!) in der Tauentzienstraße ein Bastel-Buch sehe, das mit der Coverseite nach oben präsentiert wird. Es stammt aus dem TOPP Verlag und sein Titel lautet: Rubberbands! Hipper Schmuck aus coolem Gummi. Auf dem Cover (bald hier als Foto) sind zwei Unterarme mit einer Vielzahl an unterschiedlichsten Armbändern zu sehen. Und auf einem dieser Bänder sind kleine Buchstabensteine befestigt, weiterlesen
18. Januar 2015
HALS ÜBER KOPF
Gerade komme ich aus Meissen zurück. Dort habe ich an der Ev. Akademie ein Wochenend-Seminar zum Thema Achtsamkeit geleitet. Ein Thema, das mich seit längerem begleitet und das ich in Verbindung mit dem Kreativen Schreiben in verschiedene Richtungen entwickle. Auch an diesem Wochenende waren für mich die unterschiedlichen Assoziationen der Teilnehmer*innen zu dem Begriff Achtsamkeit spannend: zwischen Neugier auf eine noch weitgehend unbekannte Welt und der Ablehnung eines Begriffs, der mittlerweile zum Modewort avanciert ist.
Was diese verschiedenen Haltungen miteinander verbindet ist die weit verbreitete Vorstellung, dass Achtsamkeit praktisch ausschließlich mit Stille, Ruhe und Rückzug zu tun hat. Das ist naheliegend, schließlich spielen meditative Aspekte eine wesentliche Rolle. weiterlesen
10. Januar 2015
ADVICE FROM A CATERPILLAR
Willkommen im Neuen Jahr!
Für mich hat es in London begonnen, einer meiner Lieblingsstädte. Mit Freude habe ich seit langer Zeit wieder einmal die Staubluft der vielen Secondhand bookshops möglichst tief eingeatmet, beispielsweise in der Charing Cross Road in Any Amount of Books (so liebevoll unordentlich) und bei Henry Pordes (spezialisiert auf Kunst, Film und Theater). Dieses Mal außerdem gezielt bei Marchpane in Cecil Court: ein kleiner Raum, vollgestopft mit Hunderten von Büchern rund um Alice in Wonderland. Dieses Buch wird im Sommer im Zentrum meines Buchclubs an der Freien Universität stehen. Die horrenden Preise haben mich zwar leider davon abgehalten, eine der schönen alten Bilderbuch- und Erstausgaben zu kaufen, weiterlesen
2014
21. Dezember 2014
EIN GROSSER STROM AUSGEFLOSSENER SCHWARZER TINTE
Was für eine Überraschung – vielen Dank an alle meine Blog-Leser*innen, die tatsächlich eine Geschichte aus den 10 Wörtern des Jahres geschrieben haben!
Die schnellste Geschichte stammt von Martina M. Luster, die unter dem Pseudonym Ornamenta di Barocco schreibt. Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn eines Buches! Ihre Geschichte können Sie weiter unten gleich lesen, wenn Sie mögen.
Und weil alle Geschichten so wunderbar unterschiedlich sind, möchte ich außerdem noch die zweitschnellste Geschichte mit Ihnen teilen. Sie stammt von Margarete Adlon.
Mein letzter Blog-Beitrag in diesem Jahr wurde also quasi „sechshändig“ geschrieben. Und er enthält zwei ganz besondere Weihnachtsgeschichten. Viel Wörter-Entdeckungs-Freude beim Lesen!
Die schnellste Geschichte von Ornamenta di Barocco:
Sie schreitet die Lichtgrenze entlang, weiterlesen
13. Dezember 2014
LICHTGRENZE
Gestern hat die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) das Wort des Jahres 2014 aus insgesamt 2.300 Vorschlägen ausgewählt.
Die Sprachexpert*innen in Wiesbaden wählen jedes Jahr ein Wort, das aus ihrer Sicht das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sprachlich in besonderer Weise begleitet hat. Dabei stehe nicht die Häufigkeit, sondern die Signifikanz bei der Wahl im Vordergrund.
Dieses Jahr fiel die Entscheidung auf das Wort ’Lichtgrenze’.
\“Eine Grenze, die sich in Licht verflüchtigt,\“ nannte GfdS-Vorstand Armin Burkhardt die Installation mit 8000 beleuchteten Ballons, die den früheren Verlauf der Mauer durch Berlin markierten und am 9. November in den Abendhimmel aufstiegen.
Hier die gesamte Top Ten:
Platz 1: Lichtgrenze
Platz 2: schwarze Null
Platz 3: Götzseidank
Platz 4: Russlandversteher
Platz 5: bahnsinnig
Platz 6: Willkommenskultur
Platz 7: Social Freezing
Platz 8: Terror-Tourismus
Platz 9: Freistoßspray
Platz 10: Generation Kopf unten
Als Dozentin für Kreatives Schreiben kommt mir bei einer solchen Liste natürlich sofort ein klassisches Schreibspiel in den Sinn: Schreiben Sie eine Geschichte, weiterlesen
06. Dezember 2014
IST DER WEIHNACHTSMANN SOZIALFÄHIG?
Vermutlich ist es eine Form von déformation professionelle: jedes Jahr, wenn ich die ganzen Nikoläuse und Weihnachtsmänner sehe, frage ich mich, welcher der beiden als Figur in einem Roman interessanter und ergiebiger wäre.
Sie wissen, wenn Sie eine klassische Geschichte erzählen, braucht Ihr Protagonist einen zentralen inneren Konflikt, der sich am Ende gelöst haben wird. Und tatsächlich ist DIESE Frage in meinem jährlichen Weihnachtsratespiel für mich immer wieder die spannendste: Was ist der zentrale Konflikt des… sagen wir mal… des Weihnachtsmanns? Was würden Sie sagen?
Vielleicht sein hin und hergerissen sein zwischen dem altruistischen Drang, Anderen Freude machen zu wollen und der Sehnsucht, weiterlesen
29. November 2014
SCHWIMMENDE ZUNGEN
Sie wissen vielleicht, dass ich von Japan fasziniert bin. Dann wird es Sie nicht wundern, dass ich den Newsletter der Japanischen Botschaft abonniert habe. Meist scrolle ich sofort zur Rubrik ’Sprichwörter und Redewendungen’. Hier wird die Unterschiedlichkeit der sprachlichen Bilder im Deutschen und im Japanischen beschrieben, die für ein und dasselbe Grundsituation verwendet werden.
Dieses Mal ging es um die Redewendung „Es liegt mir auf der Zunge“. Im Japanischen sagt man Kotoba ga ukabanai. Wörtlich übersetzt bedeutet dies „Das Wort schwimmt gerade nicht vorbei.“
Wörter wie Fische. Fische, die im Meer leben. Je nach Lust und Laune schwimmen sie entweder an der Oberfläche und zeigen ihre prächtigen Farben. weiterlesen
23. November 2014
MEIN POETISCHES LIEBLINGSWORT
In dieser Woche lag viel Poesie in meiner Luft. Das lag erstens an den Vorbereitungen meines Workshops Picture Poetry, der in zwei Tagen beginnt. Zweitens an den vielen Litfass-Säulen, auf denen das KaDeWe mit seiner Kampagne ’Herbst Poesie’ wirbt. Und es lag drittens an der neuen Dezember-Vogue, in der sich viele Seiten dem Thema ’Modepoesie’ widmen. Dabei geht es um modische Kombinationen von Dandy- und Divahaftem. Wunderbar inspirierende Fotografien, die mich an den Film Das Piano erinnern. Ein wahrlich poetischer Film.
Aber was genau bedeutet Poesie eigentlich?
Entsprechend seines Ursprungs ’poiesis = Erschaffung’ bezeichnete das Wort ursprünglich einen Text, dessen Produktion traditionell nach den drei poetischen Gattungen unterteilt ist. weiterlesen
16. November 2014
DURCHSCHRIEBENE NÄCHTE
Nach einer Arbeitswoche in Stuttgart bin ich erst heute wieder in Berlin zurück. Wäre ich bereits vorgestern hier gewesen, wäre die Nacht von Freitag auf Samstag vermutlich eine lange Nacht geworden. Und zwar eine mit einem großen „L“.
Sie kennen vermutlich die Lange Nacht der Museen, die Lange Nacht der Wissenschaften etc. Viel weniger bekannt ist eine nicht kommerzielle Variante, die aus dem universitären Umfeld stammt und offen für alle Interessierten ist:
Die so genannte Lange Nacht der Schreib- und Projektarbeiten.
Vorgestern fand eine solche im Berliner Mehrgenerationenhaus am Teltower Damm statt. Von 20:00 abends bis 05:00 morgens konnte man nicht nur Seminar- und Abschlussarbeiten fertig- bzw. weiterlesen
09. November 2014
WEITERLAUFEN KÖNNEN
Heute 25 Jahre Mauerfall. Hier in Berlin finden dazu natürlich unzählige Veranstaltungen statt. Am spektakulärsten ist sicherlich die Aktion LICHTGRENZE. Rund 7000 große weiß leuchtende Ballons zeichnen den ehemaligen Grenzverlauf durch das Zentrum Berlins auf rund 15 Kilometern zwischen Bornholmer Straße und Oberbaumbrücke nach.
Begleitet wird diese Lichtinstallation von der Open-Air-Ausstellung „100 Mauergeschichten“ Diese Geschichten sind auf 100 Tafeln zu lesen und erzählen beispielsweise von Fluchtversuchen, von politischer Propaganda, verbotenen Mauerfotos und künstlerischen Aktionen. Unter https://fallofthewall25.com/mauergeschichten kann man viele dieser Geschichten lesen.
Zusätzlich zu diesen historischen Geschichten gibt es noch hunderte aktuelle Botschaften für uns. Die Botschaften der Ballonpatinnen und -paten nämlich, die heute Abend die Ballons in die Luft steigen lassen werden. weiterlesen
31. Oktober 2014
DER TAGTRAUM ALS POLITISCHER AKT
Nach meiner Woche auf der Akademie Fürsteneck fahre ich im ICE zurück nach Berlin. Neben mir sitzt ein älterer, schweigsamer, sympathischer Mann. Als er in Kassel-Wilhelmshöhe zusteigt, legt er als erstes ein Taschenbuch auf seinen Sitz, noch bevor er selbst Platz nimmt. Es ist ein dickes englisches Original. The Old Curiosity Shop von Charles Dickens.
Ich verfalle sofort einer meiner alten Leidenschaften: den ersten Wörtern, die ich in einem solchen fremdgelesenen Buch entdecke, Bedeutung beizumessen. Und als der Mann das Buch aufschlägt und zu lesen beginnt fällt mein Blick auf die Formulierung: „What a night-time in this dreadful spot.“
Ein Satz, der mich sofort in eine innere Bilderwelt albhafter Nachtträume katapultiert. weiterlesen
26. Oktober 2014
ZEIT & FLOW
Heute Nacht war die Zeitumstellung von Sommer- auf Winterzeit. In der Nacht haben wir eine Stunde doppelt gelebt. Jedenfalls sagt uns das die Uhr.
Zeit.
In der vergangenen Woche hat mich dieses Thema bei der Vorbereitung meines Bildungsurlaubsseminars, das morgen an der Akademie Burg Fürsteneck beginnt, immer wieder beschäftigt. Und zwar in doppelter Hinsicht.
Im Seminar beleuchte ich das Thema ’work life balance’ unter den Gesichtspunkten Kreative Kompetenz und Achtsamkeit. In beiden Bereichen spielen Zeit-Aspekte und was diese in uns auslösen eine wichtige Rolle.
Beim Kreativen Denken beispielsweise das Phänomen Flow, das bei uns durch den US-Wissenschaftler Mihály Csíkszentmihályi bekannt geworden ist (und das allerdings bereits Maria Montessori unter dem Begriff ’Polarisation der Aufmerksamkeit’ beschrieben hat). weiterlesen
19. Oktober 2014
A ROSE IS A ROSE IS A ROSE
In dieser Woche hatte ich wieder das Vergnügen, in der architektonisch wunderbaren Stadtbibliothek Stuttgart am Mailänder Platz zu arbeiten. Dabei kam ich täglich mehrmals an den großen Wand-Monitoren vorbei, auf denen aktuell Reinhard Döhls digitale Poesie präsentiert wurde.
Anlässlich des 80. Geburtstags des bereits verstorbenen Netzliteraten flimmerten eine Menge seiner Gedichte über die Bildschirme. Döhl war einer der ersten Autor*innen und Künstler*innen, die in Deutschland experimentelle Literatur und Internet miteinander verbunden haben. Entstanden ist dabei eine ganz besondere Form visueller Poesie. (https://localhost/reinhard-doehl.de)
Das Gedicht, das ich an diesen Tagen beim Vorbeigehen am häufigsten gelesen habe, weil es zufällig gerade in dieser Minute gezeigt wurde, weiterlesen
11. Oktober 2014
TRAUMA LITERATURNOBELPREIS
Der neue Literaturnobelpreis-Träger heißt Patrick Modiano. Modiano ist extrem öffentlichkeitsscheu, hat die Nachricht auf der Straße in der Nähe des Jardin du Luxembourg erhalten und kann es selbst nicht fassen. Die Nachricht habe „etwas Seltsames“ für ihn.
Eine seltsame Formulierung vielleicht. Und doch so verständlich. Für mich ist das unvorstellbar: Noch kein einziges Mal hat man auch nur im Traum daran gedacht, den Nobelpreis zu erhalten. Und plötzlich hat man ihn. Ist DAS dann ein Traum? Oder eher ein Trauma?
Dabei hat nicht Modiano allein, sondern – glaubt man Präsident Hollande – gleich ganz Frankreich den Preis erhalten. Umgekehrt ist wiederum der Guardian direkt empört, dass schon wieder nicht der US-Autor Philip Roth den Preis erhalten habe. weiterlesen
05. Oktober 2014
LITERATUR DER UNTERDRÜCKTEN
Vor drei Tagen hat der neue ROOM SERVICE begonnen, meine Halbjahresgruppe für intensive Arbeit an literarischen Projekten. Eine Teilnehmerin war vor kurzem in New York und hat mir Informationen zum theatre of the oppressed mitgebracht (localhost/theatreoftheoprressed.org).
Diese New Yorker Kompagnie steht in der Tradition des Brasilianers Augusto Boal, der in seiner Zeit des Exils in den 1970er-Jahren nach Deutschland kam und mit seiner spezifischen Theaterform Einfluss auf die politische Bildung nahm. Das so genannte Theater der Unterdrückten wird mittlerweile in rund 70 Ländern praktiziert und kombiniert Kunst und Selbsterfahrung mit politischem Probehandeln. Dabei werden unterdrückte oder vernachlässigte Ressourcen in spielerischen und ästhetischen Begegnungen aktiviert und die traditionell passiven Zuschauer*innen zu Aktivist*innen der Handlung. weiterlesen
27. September 2014
BLIND SCHREIBEN
In der U Bahn mir gegenüber sitzt ein etwa achtjähriges Mädchen in Begleitung eines Mannes Anfang Dreißig. Er wirkt nicht wie ihr Vater, aber wie ein sehr vertrauter Mensch. Sie unterhalten sich über Hunde und das Mädchen erzählt, welche sie am süßesten findet.
Plötzlich fragt sie den Mann ganz unvermittelt:
„Kannst du blind schreiben?“
Der Mann stutzt kurz und sagt dann: „Mit dem Handy?“
Daraufhin ist das Mädchen still. Offensichtlich überlegt es.
Dann sagt der Mann: „Oder meinst du auf Papier?“
Das Mädchen erleichtert: “Ja, genau.“
Hhmmm…. Zum ersten Mal ist mir bewusst Jemand begegnet, der mit dem Begriff „schreiben“ automatisch „schreiben auf dem Handy“ assoziiert hat. weiterlesen
20. September 2014
SMALL WORLD OF WORDS
Über eine befreundete Mediatorin habe ich von dem weltweit angelegten Projekt „Small World of Words“ erfahren, das 2003 in Belgien startete und an dem sich nun auch Deutschland durch das Max-Planck-Institut beteiligt.
Übergreifendes Ziel ist es, herauszufinden wie Begriffe in unserem Gedächtnis angeordnet und miteinander verknüpft sind, und zwar sprachen- und altersübergreifend.
Hier ein Ausschnitt aus der Pressemitteilung, die das Max-Planck-Institut am Dienstag veröffentlicht hat und die den plastischen Titel trägt: Die Bibliothek in meinem Kopf: Wie sind Wörter im Gehirn gespeichert?
„Ein Erwachsener kennt im Schnitt rund 40.000 Wörter. Diese sind in unserem Gedächtnis, in einem individuellen, mentalen Lexikon hinterlegt und miteinander verknüpft. weiterlesen
13. September 2014
NOCH NICHT VOM SINN BESETZTE ORTE
In dieser Woche startete mein Workshop Flanieren in der Friedrichstraße, bei dem ich Schreiben und Fotografieren miteinander kombiniere und mit den Teilnehmer*innen die Kunst des Flanierens neu beleben möchte.
Hat dieser Begriff in unserem Leben heute überhaupt noch eine Bedeutung? Wann sind Sie das letzte Mal flaniert – und haben Sie es so genannt?
Flanieren wird klassischerweise mit Männern in Verbindung gebracht. Und tatsächlich: sofort hat man das Bild eines männlichen Flaneurs aus dem 19. Jahrhundert vor Augen. Ein bisschen selbstverliebt ist er vielleicht und natürlich trägt er Hut.
Schon bei der Überlegung, wie das weibliche Pendant heißt, gerät man ein wenig ins Stocken: die Flaneuse? weiterlesen
07. September 2014
SOLLTE MAN BÜCHER SCHONEN?
Das war also meine erste Arbeitswoche nach der Sommerpause. Vier Seminare inclusive einer Reise ins Sauerland, Manuskripte, Workshopvorbereitungen, Websiteplanungen… und ein Wort, das mir immer wieder durch den Kopf gegangen ist, seit ich es bei Mc Paper im Berliner Hauptbahnhof gelesen habe.
‘Buchschoner‘ stand da in großen Lettern auf einem Aluminiumregal mit einer Menge durchsichtiger Umschläge in verschiedenen Größen.
Sollte man Bücher schonen?
Und was heißt das genau? Sie nicht berühren. In letzter Konsequenz also: sie gar nicht erst lesen. Das ist die ideale Schonung. Ein Buchschoner ist also ein Nichtleser.
In meiner Sommerzeit habe ich nicht gelesen. Ich habe Bücher geschont.
28. Juni 2014
MAGIC MOMENTS
Dies ist mein letzter Blogeintrag vor der Sommerpause. Und widmen möchte ich ihn einem Gefühl.
Einem Gefühl, das ich vor wenigen Tagen ganz unerwartet hatte. Ein erinnerndes Gefühl, wie es war, als Kind vorgelesen zu bekommen. Draußen, auf einem Spielplatz. Aus einem Buch, das man sich nicht selbst ausgesucht hat (und das man erst viele Jahre später als Erwachsene bewusst lesen und dessen Autor man noch ein paar Jahre später bei den Solothurner Literaturtagen kennenlernen würde).
Das schöne Gefühl, nicht zu wissen, wie die Geschichte ausgeht, aber sie ist lustig und das ist das Wichtigste und hoffentlich ist sie noch lange nicht zu Ende. Und zu lachen und davon tatsächlich Tränen in den Augen zu bekommen… weiterlesen
21. Juni 2014
A PORTRAIT OF THE ARTIST AS A FOUNTAIN
Danke für all die interessanten mails zu meinem bookish-Eintrag von letzter Woche. Das ist wirklich ein Wort, das einem durch den Kopf spuken kann. Und eines, das solch wunderbare Gedanken hervorruft wie die einer Klientin, die von Ihrem Empfinden schreibt, „dass bookish und bücherlich schöne Wörter und Zustände sind, denn gedankliche Verbindungen – in Büchern gebunden oder in Briefen verbrieft mitgeteilt – haben eben etwas Verbindendes, was ja im Gegensatz zu weltfremd und unsozial steht! So gesehen mag ich zwar auch keine Leseratte sein, denn die frisst möglicherweise alles Bücherliche, aber ein Bücherwurm – warum eigentlich nicht? Der frisst sich gründlich und stetig in den Lesestoff hinein, ist dabei ganz in Ruhe für sich – weiterlesen
14. Juni 2014
BOOKISH
In dieser Woche war viel von Bowe Bergdahl die Rede. Der US-amerikanische Sergeant, der fünf Jahre lang in Gefangenschaft der Taliban war und jetzt im Austausch gegen fünf Stammesgenossen freigelassen wurde. Gegen ihn besteht nun der mehr oder weniger direkt ausgesprochene Verdacht, dass er mittlerweile selbst islamistische Gesinnung habe. Und nicht nur das: er sei bereits vor seiner Entführung seltsam gewesen. Irgendwie – und jetzt kommt‘s: „bookish“.
Ein Bücherwurm also. Was ja zunächst nichts Negatives ist. Aber im Grunde eben DOCH.
Ich hege größte Antipathie gegen dieses Wort. Denn ganz abgesehen davon, dass wohl niemand gern ein Wurm sein möchte (aber natürlich auch keine (Lese)ratte) schwingt in unserer Tradition bei der Bezeichnung Bücherwurm durchaus auch etwas Weltfremdes, weiterlesen
08. Juni 2014
DIE HERZLKLAUSEL
Pfingstsonntag, 7 Uhr morgens. Ich sitze bei geöffnetem Fenster in meinem kleinen Zimmer auf der Akademie Burg Fürsteneck und höre eine Vogel-Symphonie draußen in den Bäumen.
Hier leite ich einen Schreib-Workshop für „unerschrockene Kommunikation“ und zum Vergnügen, sich misszuverstehen. Anlass ist das Pfingst-Thema der Burg: „Lass uns reden“
Das erinnert mich an die vielen ebenso engagierten wie langen Diskussionen, von denen eine Lektorin des Wagenbach Verlags erzählt hat – anlässlich der Ausstellungseröffnung in der Berliner Staatsbibliothek zum 60jährigen Verlagsjubiläum.
Eines der Grundprinzipien des Verlags ist es nämlich, bei der Entscheidung darüber, welche Manuskripte publiziert werden, ausschließlich Einheitsbeschlüsse zu akzeptieren und keine hierarchischen Entscheidungen. weiterlesen
01. Juni 2014
SAG MIR WAS DU LIEST UND ICH SAGE DIR WER DU BIST
Unfassbar!
Nachdem ich in meinem letztem Blogbeitrag ein bisschen mein Schicksal bejammert habe, dass es bereits Jahre her sei, seit ich zum letzten Mal auf ein allein gelassenes Buch gestoßen bin, hat sich eben jenes Schicksal offensichtlich ins Zeug gelegt.
So kann ich hier und heute verkünden, dass mir dieses Glück vorgestern Nachmittag um 17:30 Uhr am Bahnhof Hamburg-Altona auf einer Sitzbank an Gleis 6 bereits schon wieder zuteil wurde.
Als ich aus dem Zug aussteige sehe ich sie schon von weitem. Rund zehn Bücher liegen da, gehüllt in eine 70er Jahre-Vergilbtheit-Aura.
Als literarische Profilerin (mein EIGENTLICHER Beruf!) würde ich den Titeln nach schließen, weiterlesen
24. Mai 2014
AUSGESETZTE BÜCHER
In dieser Woche ist es endlich mal wieder passiert!
Jahre ist es her, dass es das letzte Mal passiert ist (in einer Stadt, in der ich zu Besuch war, ich weiß nicht mehr, welche). Und seit damals denke ich sicherlich einmal im Monat „Na? Wann wird es wohl wieder soweit sein?“
In dieser Woche war es soweit. Ich stieg in eine U-Bahn und da lag es: ein Buch, allein gelassen. Ausgesetzt. Ausgelesen. Ausgestoßen. Oder schlicht und ergreifend vergessen.
Es hatte eine ganze Sitzbank für sich, niemandem schien es aufzufallen und die Botschaft war ganz klar: es hat auf mich gewartet.
Schon wieder ist die Überschrift eines Artikels Auslöserin für meinen Blogbeitrag. „Ich kann es nicht mehr hören.“ lautet sie diesmal.
Aber von Anfang an.
In dieser Woche habe ich mir die Ai Weiwei Ausstellung Evidence im Martin Gropius Bau angesehen. Während der Führung ist immer wieder sein gezielt strategischer Umgang mit den Medien kritisiert worden, die er für seine Zwecke nur allzu clever einzusetzen wisse.
Tatsächlich ist es durchaus nicht leicht, diese tatkräftig aktive Fähigkeit zu vereinbaren mit dem Bild des Künstlers als „Opfer“, der unter ständiger Bewachung steht und nicht ausreisen darf.
Ähnlich schwierig wie sein politisches Anliegen auf der einen Seite und dessen künstlerische Umsetzung für die „Massen“ auf der anderen. weiterlesen
10. Mai 2014
EINE SPRACHE NAMENS HSILGNE
Bei meiner Kieferorthopädin blätterte ich in dieser Woche im aktuellen SPIEGEL, stieß auf einen Artikel mit der Überschrift „Sprache ist alles“ und war so fasziniert, dass ich nach meiner Behandlung zurück ins Wartezimmer gegangen bin – um diesen Artikel zu Ende lesen zu können.
Der Physiker Douglas R. Hofstadter wurde darin porträtiert, dessen Buch „Gödel, Escher, Bach“ in den 80er Jahren Furore machte. Darin verknüpfte er Bachs Kompositionen mit Bildern von Escher und dem Unvollständigkeitssatz des Mathematikers Gödel.
Sein neuestes Buch, das er gemeinsam mit dem französischen Wahrnehmungspsychologen Emmanuel Sander geschrieben hat, heißt „Die Analogie. Das Herz des Denkens“ und handelt von den Zusammenhängen zwischen Sprache und Geist, weiterlesen
02. Mai 2014
I SHOULD LIKE TO TAKE THIS INTO ME
Ich arbeite in diesen Tagen von Köln aus und wohne hier im Chelsea Hotel, einem Kunsthotel im ursprünglichen Sinn. Martin Kippenberger hat hier in den 80er Jahren oft längere Zeit gewohnt und seine Aufenthalte mit eigenen Bildern sowie mit Bildern aus seiner Sammlung bezahlt. Entsprechend ist hier fast jedes Zimmer bestimmten Künstler*innen gewidmet.
Das erinnert einen natürlich an das berühmte New Yorker Chelsea Hotel, das durch Warhols Experimentalfilm The Chelsea Girls berühmt wurde und in welchem (vornehmlich männliche) Künstler*innen und Autor*innen wie Thomas Wolfe, Arthur Miller oder Dylan Thomas über längere Zeit gelebt haben.
Auf dem Weg zum Hotel laufe ich immer die Lindenstraße entlang und hier habe ich vorgestern Nacht einen wundersamen Zettel entdeckt. weiterlesen
27. April 2014
ES GIBT KEINEN TOD
In dieser Woche wurde eine große Totenfeier für den verstorbenen Gabriel García Màrquez ausgerichtet.
Der Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist das berühmteste Werk des kolumbianischen Autors. In den knapp 50 Jahren, seit dieses Buch auf dem Weltmarkt ist, wurde es bereits 30 Millionen Mal verkauft. Das macht 3 Millionen in 5 Jahren, 600.000 pro Jahr und bedeutet also, dass durchschnittlich 1.600 Mal pro Tag irgendjemand irgendwo auf der Welt dieses Buch gekauft, vielleicht verschenkt, vielleicht gelesen hat.
Das ist kaum vorstellbar, finde ich. Und selbst wenn die Verkaufszahlen direkt nach Erscheinen, direkt nach Erhalt des Nobelliteraturpreises und jetzt, direkt nach seinem Tod, vermutlich am höchsten sind, weiterlesen
18. April 2014
VON RÜCKENSCHULEN UND HÄSCHENSCHULEN
In meinem Sportstudio wird zweimal wöchentlich die sogenannte Rückenschule angeboten. Ich frage mich schon seit längerem, warum es die Rückenschule gibt, aber nicht die Bauchschule oder Beinschule.
Vermutlich, weil der Rücken eine ernste Angelegenheit ist und man entsprechend ernst und diszipliniert sein muss wie in der Schule, während Bauchtraining mit etwas mehr Freude verbunden sein darf!?
Als ich in dieser Woche wieder einmal das Wort „Rückenschule“ auf dem großen Sportstudio-Stundenplan (sic!) lese, muss ich unwillkürlich an die „Häschenschule“ von Albert Sixtus denken, das wohl berühmteste Osterbilderbuch, das auch in diesem Jahr in allen Buchhandlungen auf den Ostertischen liegt. (Es gibt mittlerweile auch eine Pop-Up-Version.)
Ganz offensichtlich wird dieses Buch immer noch gekauft. weiterlesen
11. April 2014
SELBSTÜBERSETZUNG
In dieser Woche ist mir die Einladung zu einer Tagung am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin auf den virtuellen Schreibtisch geflattert, die im November stattfinden wird: „Selbstübersetzung als Wissenstransfer“ ist das Thema.
„Von Selbstuebersetzungen kann immer dann gesprochen werden, wenn sich Autoren als ihre eigenen Uebersetzer betaetigen. Dabei handelt es sich um ein
faszinierendes Phaenomen, das im Feld der literarischen Uebersetzung bereits
seit laengerem in den Blick genommen wird, aber in seiner wissenstheoretischen
und -geschichtlichen Reichweite noch weitgehend unerforscht ist.“ heißt es in der Ankündigung.
Im literarischen Kontext ist damit klassischerweise die Tatsache gemeint, dass Autor*innen ihr eigenes Werk oder Teile daraus in eine andere Sprache übersetzen, weiterlesen
05. April 2014
KEIN SCHRIFTSTELLER, DER BEI TROST IST, SCHREIBT EINE AUTOBIOGRAFIE
Vorgestern ist der Schweizer Autor Urs Widmer gestorben.
Höre ich seinen Namen, kommt mir sofort das Cover seines Buches Der blaue Siphon in den Sinn. Aus irgendeinem Grund beeindruckt mich der darauf abgebildete gemalte Siphon. Er sieht aus wie eine Sauerstoff-Flasche für Taucher*innen… wie ein blauer Feuerlöscher… wie ein blaues Wunder…
Das Buch selbst ist eine Art Märchen. Es hat zwei Erzähler (bei denen es sich um ein- und dieselbe Person handelt: mit 53 und mit drei Jahren) und ist autobiografisch gefärbt wie sehr vieles, das Widmer geschrieben hat. Allem voran seine Trilogie Der Geliebte der Mutter, Das Buch des Vaters und Ein Leben als Zwerg. weiterlesen
29. März 2014
WAS REIMT SICH AUF PISSE?
In zwei Tagen wird Volker Schlöndorff, der sich – wie wohl kaum ein anderer deutscher Regisseur – der Verfilmung von Literatur gewidmet hat, 75 Jahre alt. Zu diesem Anlass zeigte 3:sat Kulturzeit vorgestern ein Interview mit ihm.
Ich höre Schlöndorff immer gern zu, zumal ich ihn sehr sympathisch und auf angenehme Weise reflektiert finde. Eine Sache hat mich aufhorchen lassen: Schlöndorff sagt, dass er sich bei seinen frühen Literaturverfilmungen – wie beispielsweise Die verlorene Ehre der Katharina Blum, Die Blechtrommel oder Eine Liebe von Swann – immer auch hinter den literarischen Vorlagen versteckt habe. Er sei diesbezüglich etwas schüchtern gewesen. Erst als Dustin Hoffman ihn für die Verfilmung von Tod eines Handlungsreisenden „geholt“ habe, weiterlesen
26. März 2014
EINE STADT ALS OFFENES BUCH
Am Wochenende habe ich ein Short-Story-Seminar auf der Akademie Burg Fürsteneck geleitet. Diese Burg – ganz in der Nähe von Fulda – ist ein besonderer Ort. Umgeben von Feldern und Wäldern befindet sich der nächste Bahnhof, Hünfeld, 16 km entfernt.
Diese Strecke muss ich manchmal mit dem Taxi fahren, so auch am Sonntag. Dabei ist mir zum ersten Mal das große Transparent aufgefallen, das über die Hauptstraße gespannt ist: „Hünfeld ist ein offenes Buch“.
Und tatsächlich: an manchen Häuserwänden waren großformatige Buchstaben, Wörter und Satzkonstruktionen zu lesen. Der Taxifahrer erzählt, dass es diese Aktion schon seit mehreren Jahren gibt, kann mir allerdings nichts Näheres dazu sagen. weiterlesen
16. März 2014
DÜRFEN DIE MUSEN SINGEN, WENN DIE WELT IM ARGEN LIEGT?
Heute das Krim-Referendum.
Gestern auf der Leipziger Buchmesse die vom Goethe Institut initiierte Diskussion „Wozu Literatur?“, auf der der russische Autor Michail Schischkin sagt, es sei nicht möglich, „in einem Zimmer an einem Roman zu schreiben, in dem gerade ein Mord passiert.“ (er meint damit die Live-Fernsehbilder aus den Kampfgebieten). Aber er könne nur das, was er könne. Also werde er „mit Worten kämpfen.“
Vorgestern die aktuelle Bachmann Preisträgerin mit ukrainischen Wurzeln, Katja Petrowskaja, die der Überzeugung ist, gerade auch Autor*innen müssen alles daran setzen, Putin „zurückzuscheuchen“.
Vor fünfundvierzig Jahren die 68er, die den „Tod der Literatur“ aus Gründen eines politisch-moralischen Utilitarismus verkünden. Vor fünfundsechzig Jahren Theodor Adorno, weiterlesen
08. März 2014
MINIMALISTISCHE TYPINGS
In dieser Woche hat mich zweifach die gegenseitige Inspiration sprachlicher und musikalischer Komposition beschäftigt.
Erstens im Zusammenhang mit der aktuellen Lektüre meines Romantik-Buchclubs: Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann. Hoffmann, selbst nicht nur Schriftsteller, sondern auch Komponist (und Zeichner außerdem!), hat seinen Sandmann verblüffend ähnlich komponiert wie Beethoven seine späten Sonaten.
Und zweitens im Zusammenhang mit der Philip Glass/Robert Wilson Oper Einstein on the beach, die Ende der 80er Jahre in Stuttgart die deutsche Opernwelt erschüttert hat und jetzt in nahezu Originalinszenierung in Berlin gezeigt wurde.
Am Donnerstag habe ich dieses 4-Stunden Werk genossen und im Anschluss daran einiges über die Texte gelesen, die von Christopher Knowles stammen, weiterlesen
02. März 2014
LESEN AUF DEM STILLEN ÖRTCHEN
Mit zwei Vermutungen in meinen Blogbeiträgen der letzten Wochen lag ich falsch.
Erstens: Es gibt Menschen, die den Ausdruck „gespannt wie ein Flitzebogen“ im Alltag durchaus und selbstverständlich verwenden (im Ausgleich zu anderen, die den Ausdruck noch nie gehört haben).
Und zweitens: Es gibt Menschen, die noch niemals auf der Toilette gelesen haben. Vom Schreiben also ganz zu schweigen.
Folgenden mail-Ausschnitt einer Klientin will ich Ihnen nicht vorenthalten. Sie schreibt in Bezug auf private und öffentliche Toiletten:
„Sowohl an dem einen, als auch am anderen mich dem Lesen oder Schreiben zuzuwenden (sei es auch nur eine SMS, eine Mail ) – schier unvorstellbar….Weder als eine Art „konspirative Handlung“ gegen den möglichen Rest der „Insassen“, weiterlesen
22. Februar 2014
SCHREIBEN AUF DEM STILLEN ÖRTCHEN
Komme gerade zurück von meinem fünfstündigen Schreib-Workshop „Orte der Stille“, bei dem ich für die Teilnehmer*innen hier in Berlin eine kleine Inspirationsreise zu verschiedenen Orten zusammengestellt habe. Orte, die sich auf unterschiedlichste Weise mit dem Spannungsfeld äußerer und innerer Stille & „Unstille“ verbinden. Das Stelenfeld des Holocaust Mahnmal beispielsweise, der Raum der Stille am Brandenburger Tor oder die U-Bahn Station Bundestag. Literarischer roter Faden waren Zitate aus Peter Handkes Buch Versuch über den Stillen Ort (mit großem S). Gemeint sind nicht nur stille Orte unterschiedlichster Art, sondern in erster Linie die Stillen Örtchen, die ihn seit Jahrzehnten immer wieder angezogen haben.
Diese Faszination kann ich sehr gut nachvollziehen. weiterlesen
15. Februar 2014
VOM SPRACHDONNER GERÜHRT
Was habe ich in meinem letzten Blog über den Ausdruck „Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen“ geschrieben? Dass heute Niemand mehr diesen Ausdruck benutzt. Richtig.
Und was ist genau drei Tage später, am Dienstag, passiert? Als ich beim Zappen bei einer Wiederholung von „Frauentausch“ hängenbleibe und einer jungen so genannten Tauschmutter dabei zusehe, wie sie auf dem Sofa ihrer Tauschfamilie, mit der sie ab sofort 10 Tage verbringen wird, sitzt und darauf wartet, dass diese in wenigen Minuten durch die Tür kommt? Diese junge Frau spricht in die Kamera und sagt – Achtung! – „Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen“. Ich war wie vom Sprachdonner gerührt!
Wes Andersons Film „The Grand Budapest Hotel“ hat vor zwei Tagen die 64. Berlinale eröffnet und hat sich mit diesem Werk, das übrigens in Görlitz und im Studio Babelsberg entstanden ist, angeblich selbst übertroffen.
Ich liebe seine magischen Filme wie Die Royal Tenenbaums, Tiefseetaucher oder Der Magische Mr. Fox. Entsprechend gespannt bin ich auf das Budapest Hotel, das vordergründig eine abenteuerliche Schnitzeljagd ist, aber vor allem ein raffiniertes Zeitporträt, das zwischen den beiden Weltkriegen spielt.
Und es ist auch ein literarisch-inspirierter Film. Nicht nur, weil im Mittelpunkt Concierge Gustave (Ralph Fiennes) steht, ein penibler Poet, der aus der Zeit gefallen scheint und seinen den Gästen jeden Wunsch von den Lippen abliest. weiterlesen
01. Februar 2014
DER KURIOSESTE BUCHTITEL DES JAHRES
Sicher ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass die deutschen Buchtitel in den letzten Jahren um einiges ungewöhnlicher geworden sind. Natürlich geht es um Werbewirksamkeit, aber ich finde, es ist auch ein positives Zeichen sprachspielerischer Lockerheit.
Die Mayersche Buchhandlung greift diesen Trend jetzt (ebenfalls werbewirksam!) auf und lässt ihre Lese-Community „Was liest du?“ zusammen mit einer Fachjury über den „Ungewöhnlichsten Buchtitel des Jahres 2013“ abstimmen, der dann auf der Leipziger Buchmesse prämiert werden wird.
So ganz neu ist das allerdings nicht. Seit 2008 hat das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel zusammen mit der Redaktion von Schotts Sammelsurium die Auszeichnung „Kuriosester Buchtitel des Jahres“ vergeben, der wiederum auf der Frankfurter Buchmesse verliehen wurde. weiterlesen
26. Januar 2014
KENNEN SIE UMESWARAN ARUNAGIRINATHAN?
Gestern habe ich ein kleines tamilisch- srilankesisches Lokal entdeckt, das mir so gut gefallen hat, dass ich heute gleich nochmal dort war: zum veganen Brunch.
Und während ich meine geliebten Idli esse, wird mir bewusst, dass ich keine einzigen tamilischen Autor*innen kenne!
Also habe ich gerade recherchiert und gelesen, dass die klassische tamilische Literatur rund 2000 Jahre alt ist und von verschiedenen religiösen Strömungen, vor allem muslimische und christliche, geprägt ist – und zwar bis heute.
O.k., aber welche zeitgenössischen Autor*innen gibt es? Ich lande schließlich beim Sri Lanka Verein Hamburg e.V. Auf deren Liste von Autor*innen taucht immer wieder der Name Umeswaran Arunagirinathan auf. weiterlesen
19. Januar 2014
MEIN HERZ GEHÖRT DEM KOPF
Am Ende meiner ersten Arbeitswoche im neuen Jahr hier also der erste Blog-Eintrag, der für mich immer auch etwas Besonderes ist. Entsprechend habe ich mir im Laufe dieser Woche alle möglichen Blog-Themen auf (virtuelle und reale) Zettel notiert: die erstaunliche Buch-Menschenketten-Aktion anlässlich der Eröffnung der neuen Bibliothek der Kulturhauptstadt Riga beispielsweise.
Entschieden habe ich mich letztlich für einen Autor, zu welchem in den letzten Tagen viele Fäden geführt haben, nicht zuletzt der Erwerb eines seiner Bücher für 1,00 Euro im Flohmarkt meiner Stadtteilbibliothek – eine schöne alte Lizenzausgabe für die DDR, die damals 2,50 M gekostet hat.
Ein Autor, ebenso berühmt wie ungelesen, und nicht nur dadurch mit Joyce, weiterlesen
2013
15. Dezember 2013
WIR MEINEN NICHT WIRKLICH, DASS DAS, WAS WIR ERZÄHLEN WERDEN AUCH WAHR IST
Diese Woche war unter anderem geprägt durch die Trauer um Nelson Mandela. Vor drei Tagen habe ich mir eine private Bibliothek näher angesehen und dabei ein Buch entdeckt, das ich noch nicht kannte: Nelson Mandela – Meine afrikanischen Lieblingsmärchen.
Dieses Buch, erschienen im C.H. Beck Verlag, versammelt aus verschiedenen afrikanischen Ländern Märchen, die – ob man das nun glaubt oder auch nicht – von Mandela besonders geschätzt wurden.
Im Vorwort schreibt er über die Geschichtenerzähler der Ashanti, die ihre Erzählungen immer mit den Worten beginnen: „Wir meinen nicht wirklich… wir meinen nicht wirklich… dass das, was wir jetzt erzählen werden, auch wahr ist.“ Denn die Geschichten, weiterlesen
15. Dezember 2013
DIE VORSTELLUNG DASS 10 MEGABITE NICHTS WIEGEN
Nein, kein Weihnachtsbezug hier. Versprochen ist versprochen: diese Woche gebe ich zwei interessante Kommentare zu meinem Blogeintrag vom 2. Dezember weiter, Thema e-books:
’Ein e-Book liest man nur einmal und dann ist es weg,’ schreibt eine Klientin, die vor kurzem Ihren ersten Roman beendet hat. ’Man würde denken, das Erlebnis reicht, aber nein. Es ist tatsächlich das Buch. Ich hab mir beim letzten Berlinbesuch ein Taschenbuch gekauft. Ein echtes Taschenbuch: Hardcover und Miniformat (10×15 cm). Steinfisch von Keri Hulme. Es hat mich längere Zeit in der Handtasche begleitet, jetzt liegt es auf dem Nachttisch und ist so unglaublich wertvoll! Ich verstehe vieles darin nicht, aber gerade deshalb muss ich es manchmal anfassen. weiterlesen
08. Dezember 2013
DAS BESTE BUCH ÜBER MÄNNER
Mit meinem Physiotherapeuten komme ich oft ins Gespräch. Er ist literarisch sehr interessiert und fragt manchmal nach meinen Workshops. Vor drei Tagen erzähle ich ihm von meinem Kurzseminar zum Thema „Schreiben Männer anders?“, das morgen stattfinden wird.
Mich beschäftigen die schreib-bezogenen geschlechtsspezifischen Unterschiede bereits seit rund 30 Jahren. Damals habe ich als Buchhändlerin hautnah erfahren, wie Leseverhalten, Bestseller-Listen etc. das Schreibverhalten beeinflussen. Damals: als Buchregale mit der Aufschrift „Frauenliteratur“ selbstverständlich waren.
Das, was man darunter versteht, hat sich in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert. Aber was ist mit Männerliteratur? Und welche Auswirkung hat all das auf männliches Schreiben?
Ich habe dazu im Laufe der Jahre einige Thesen entwickelt und werde diese morgen mit den – weiterlesen
01. Dezember 2013
EIN HUHN NAMENS ANGELA MERKEL
O.k., heute also zu Jonas Jonasson und seinen beiden mehr oder weniger identischen Büchern. Nicht nur in Bezug auf äußere Aspekte wie Titel und Cover, sondern auch, was die Grundidee betrifft: Eine sympathische Hauptfigur ändert die Weltgeschichte, ohne es zu wollen. Erzählt in einem Plauderton mit gesellschaftskritischen Einsprengseln.
Wer nach dieser auffallenden Parallelität fragt, bekommt die diplomatische Antwort: Na, weil es derselbe Autor sei!
Ein Autor, der nach einem Burn-out mit 47 Jahren beschlossen hat, ein anderes Leben zu leben. Als Beruf habe er „Bestsellerautor“ gewählt. Von 9 Uhr morgens bis 3 Uhr nachmittags sitze er in seinem Schreibhäuschen im Garten und kümmere sich den Rest des Tages um seinen Sohn. weiterlesen
24. November 2013
SCHLECHTE EINFÄLLE SIND WIE PRÜGELKNABEN
Eigentlich wollte ich über Jonas Jonassons neues Buch „Die Analphabetin, die rechnen konnte“ schreiben, das mir seit Tagen auf allen möglichen Großplakaten entgegen leuchtet und dessen nahezu identische Aufmachung wie Jonassons erster Roman über den Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg, das dahinter stehende Marketing mehr als entlarvt, ABER:
Ein Satz, den ich vorhin im Film „Unter der Sonne der Toskana“ gehört habe, hat sich vor die Analphabetin gedrängt.
Da dankt ein Jungautor seiner ehemaligen Lehrerin, der Autorin Francis (Diane Lane) und sagt: „Sie hat mir beigebracht, dass schlechte Einfälle wie Prügelknaben auf dem Schulhof sind: mit genügend Liebe und Arbeit kann noch was Erstaunliches aus ihnen werden.“
In meiner Buchclub-Reihe ’Literaturnobelpreisträgerinnen’ an der Freien Universität stand sie ein Semester lang im Mittelpunkt. Seitdem gehört ihr Goldenes Notizbuch für mich zu einem der faszinierendsten autobiografischen Romane, die ich kenne.
In der Jurybegründung zum Nobelpreis, den sie 2007 erhielt, als Niemand mehr damit gerechnet hat – auch sie selbst nicht – wurde sie gewürdigt als „Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat.“
Ihr Goldenes Notizbuch gilt – nicht zuletzt in diesem Sinn – als Bibel alias Kultbuch der Frauenbewegung, auch wenn Lessing sich selbst nie als Feministin betrachtet hat. weiterlesen
10. November 2013
SHITSTORM
Die Schweiz hat nun ihr Wort des Jahres 2012 (!) gewählt: shitstorm.
Ja, es handelt sich dabei tatsächlich um das Wort und nicht das Un-Wort des Jahres (die Ehre des Unwortes erhält das Wort: Bio.)
Shitstorm ist Ehrung gewohnt. So war dieses Wort unter anderem Anglizismus des Jahres 2011, die Gesellschaft für deutsche Sprache, die sich naturgemäß grundsätzlich gegen jede Art von Anglizismus wehrt, wählte Netzhetze auf den sechsten Platz des Wort des Jahres 2012 und in diesem Jahr ist dieses Wort nun auch geadelt, seit es im neuen Duden aufgenommen wurde und nun als „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“ definiert wird. weiterlesen
03. November 2013
DIE DEUTSCHE MEISTERSCHAFT IM GEDICHTE REZITIEREN
Komme gerade von der Wahl zum Volksentscheid über die Rekommunalisierung der Berliner Energieversorgung. Mein Wahllokal war eine Kita neben der Kurt-Tucholsky-Grundschule.
Da musste ich gleich an gestern Abend denken. Auf der Suche nach einem schönen Samstag-Abend-Film zappe ich durch die Programme und will auch bei ARD sofort weiterschalten, denn die von Kai Pflaume moderierte Deutsche Meisterschaft skurriler Disziplinen interessiert mich nicht. Aber dann bleibe ich doch dran, denn: gerade in diesen Minuten wird die „Deutsche Meisterschaft im Gedichte rezitieren“ ausgetragen.
Eine Frau und ein Mann treten im direkten Wettstreit gegeneinander an. Das Procedere ist folgendermaßen: Ben Becker liest ihnen jeweils eine einzige Zeile mitten aus einem deutschen Gedicht vor und es müssen die jeweils folgenden drei Zeilen absolut korrekt rezitiert werden. weiterlesen
25. Oktober 2013
WÄREN SIE GERN UNSTERBLICH?
Diese Woche war für mich stark geprägt von der Hessischen Schülerakademie Burg Fürsteneck. Hier haben 60 Schüler*innen der Mittelstufe in ihren Herbstferien zehn Tage lang gemeinsam gelebt und gelernt. Beispielsweise in einer meiner zwei Philosophie- und Schreibwerkstätten zum Thema „Identität“.
Unter anderem haben die Jugendlichen ihre ganz persönlichen Top 10 formuliert: zehn Fragen, die ihnen momentan am wichtigsten sind. Natürlich gab es große Unterschiede bei diesen Fragen. Aber dennoch auch erstaunlich oft ähnliche oder sogar dieselben Fragen. Besonders häufig waren beispielsweise Varianten von „Wären Sie gern unsterblich?“, „Hat alles einen Sinn?“, „Gibt es außerirdisches Leben?“ oder „Gibt es ein perfektes Leben?“
Nach Abschluss der Akademie saß ich auf meinem Rückweg im ICE zwischen Fulda und Mannheim und war nachhaltig berührt von all diesen Sehnsüchten, weiterlesen
20. Oktober 2013
KAMISHIBAI
In dieser Woche habe ich für die Stadtbibliothek Brilon zwei Einführungs-Workshops für ehrenamtliche Vorleser*innen geleitet. Diese sehr engagierte Stadtbibliothek hat seit 2011 einen ihrer Arbeitsschwerpunkte im Bereich Medienerziehung und unter anderen aus diesem Grund auch ein ausleihbares Kamishibai.
Ein Kamishibai (kami = Papier, shibai = Theater) ist eine Art aufklappbarer Bilderschaukasten und ist als Form des öffentlichen Theaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Japan entstanden. Die Vorführer des Kamishibai, die als Süßwarenverkäufer mit dem Fahrrad von Dorf zu Dorf fuhren, erzählten mit kurzen kindgerechten Texten zu wechselnden Bildern, die in diesen bühnenähnlichen Holzrahmen geschoben wurden. Die Vorstellungen selbst waren kostenlos und dienten im Grunde lediglich dazu, den Verkauf der Süßigkeiten anzukurbeln. weiterlesen
11. Oktober 2013
SENSATION: SHORT STORIES ALS LITERATUR ANERKANNT
Noch nie habe ich mich über die Bekanntgabe des Literaturnobelpreises so gefreut wie gestern: Alice Munro hat ihn bekommen. ENDLICH!
Um ehrlich zu sein, ich hätte es nicht geglaubt. Denn wer so oft als Anwärterin gehandelt wird, erhält ihn meist nie.
Unabhängig davon, dass ich eine große Bewunderin ihrer short stories bin, finde ich es einfach großartig, dass mit diesem Preis auch die Gattung der Kurzgeschichte geehrt wird, denn es gibt nach wie vor Menschen, die Romanautor*innen per se mehr wertschätzen als Autor*innen von Kurzgeschichten und die der Ansicht sind, wahre Meisterschaft zeige sich erst in der so genannten „großen Form“.
Kurzgeschichten, die im Fall von Munro übrigens oftmals auch als Novellen oder Erzählungen bezeichnet werden. weiterlesen
05. Oktober 2013
„LITERATUR MIT ’H’, ODER?“
Heute beginnt meine dreiwöchige Arbeits-Reise durch Deutschland. Erste Station: die wunderbare neue Stuttgarter Bibliothek. Dort werde ich mehrere Workshops für ehrenamtliche Vorleser*innen leiten und dabei wird es nicht nur ums reine Vorlesen, sondern um Literacy insgesamt gehen, also die ganzheitliche Verbindung von Vorlesen, Erzählen, Spielen, Bewegung etc. Und natürlich ist damit auch die Förderung des Lesens und Schreibens eng verbunden.
All das flirrte in meinem Kopf, als ich am Berliner Hauptbahnhof am DB Schalter eine neue BahnCard kaufe und in diesem Zusammenhang meine gespeicherten Daten auf Aktualität überprüft wurden. Tatsächlich war noch meine uralte Mailadresse im System. Ich werde nach der aktuellen gefragt und sage das Übliche: „stoff@literaturschneiderei.de… weiterlesen
30. September 2013
EGOZENTRISCHER GRÖßENWAHN
Tja, Reich-Ranickis Tod… Die Nachrufe allesamt positiv und allesamt mehr oder weniger Varianten dessen, was Frank Schirrmacher von der FAZ, der ihm auch persönlich sehr verbunden war, bewundernd sagt: „Er war ein großer Mann.“
All diese Nachrufe auf diesen großen Mann, diesen Literatur-Papst sind nachvollziehbar. Dennoch: sie verursachen in mir ein ungutes Gefühl. Denn etwas meiner Ansicht nach Wesentliches bleibt ungesagt. Eine sehr bestimmende und wirkungsvolle Seite an ihm: seine gnaden- und kompromisslos verletzende Seite.
Unzählige Male und auf unterschiedlichste Weise hat er unter anderem seine Gesprächspartner verletzt, beispielsweise indem er seine Sachargumente mit der menschlichen Ebene verknüpft hat. Schmerzhaft in Erinnerung beispielsweise die Folge des Literarischen Quartetts, weiterlesen
21. September 2013
ES WIRD SICH SOWIESO NICHTS ÄNDERN
Eigentlich wollte ich etwas zum Tod von Marcel Reich-Ranicki schreiben. Aber die morgige Bundestagswahl hat auch das Thema dieses Blog-Eintrags beeinflusst. Genauer gesagt: Renate Künast, die heute um 12:15 Uhr am Breslauer Platz in ihrem Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg plötzlich vor mir stand und mir eine kräftig-stämmige Sonnenblume mit den Worten in die Hand drückte „Sie haben doch noch Platz?“ Ja, ich hatte noch Platz.
Die Sonnenblume steht neben mir, während ich dies schreibe und mir kommen Parallelen in den Sinn: Ähnliche Argumentationen von Menschen, die die Wahl verweigern (obwohl sie im Grunde gerne wählen würden) und Menschen, die das Schreiben verweigern (obwohl sie im Grunde gerne schreiben würden).
Auf meinen letzten Blogeintrag hin habe ich mehrere interessante Gedanken gemailt bekommen. Diese möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: „Das Haptische auf einen Fingerwisch oder Fingertitsch zu reduzieren – was für ein trauriges Unterfangen! Aber sicher gibt es auch da die berühmten 2 Seiten der Medaille.“
„Für mich ist ein Buch multisinnlich: in der Auslage sehen, es im Geschäft zur Hand nehmen, daran riechen, das Inhaltsverzeichnis anschauen, im Blättern, blättern, innehalten, Seiten umblättern…Es wird Zeiten geben, in denen Menschen DIESE Erfahrungen nicht mehr machen werden.“
„Ich habe die Nutzer- oder Userbrille auf. Deshalb sage ich, dass auch ein Kindle ein Buch ist, denn ich kann drin lesen. weiterlesen
06. September 2013
WARUM WIR DAS HAPTISCHE ZEITALTER EINLÄUTEN SOLLTEN
Ich weiß: Beispiele für das Verschwinden des Buches in Zeiten von e-book readern etc. gibt es wie Sand am Meer. Aber heute früh musste ich mir tatsächlich die Augen reiben, als ein besonders repräsentatives Sandkorn plötzlich und unvermutet meine Augen gereizt hat:
Im ZDF Morgenmagazin war ein Bericht über die IFA Anlass, einen Interviewausschnitt mit der Sängerin Katie Melua einzuspielen, die sich gerade auf dem Vodafone Stand präsentiert hat. Melua, knapp 30 Jahre alt, erzählt, dass sie bei allem Stress, dem sie ausgesetzt ist, auch immer wieder Ruhe brauche. Natürlich habe sie „einen i pod und ein kindle“ und da könne es leicht passieren, dass man vergisst „wie sich ein echtes Buch anfühlt.“ Deshalb gehe sie ab und zu in eine Bibliothek, weiterlesen
30. August 2013
I HAVE A DREAM
Vor zwei Tagen hat sich Martin Luther Kings berühmte „I have a dream…“-Rede zum 50sten Mal gejährt. Die Rede ist mir vertraut. Neu war mir allerdings, dass King die Worte „I have a dream“ ursprünglich gar nicht verwenden wollte. Seine Berater hatten ihm davon abgeraten, denn er hatte bereits in vielen Reden davor diese Formulierung gebraucht.
Tatsächlich war es die Sängerin Mahalia Jackson, die sich in diesen Minuten direkt hinter ihm befand und ihn aufforderte, seinen Traum zu erzählen.
Was lernen wir daraus?
Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau. Ja, vielleicht. Aber auch das: manchmal ist es gut, sich nicht vor Wiederholungen zu scheuen. weiterlesen
23. August 2013
EIN ROMAN ALS LIEBESBRIEF
Gestern habe ich mit einem Klienten eine der zentralen Fragen diskutiert, die bei der schreibstrategischen Planung eines Romans auftauchen: muss ich bereits zu Beginn meines Schreibens genau wissen, wie der Roman enden wird?
„Um einen Liebesbrief zu schreiben, musst du anfangen, ohne zu wissen, was du sagen willst, und endigen, ohne zu wissen, was du gesagt hast.“ Dieses Zitat stammt von Rousseau und wurde gestern im 3sat Kulturzeit-Beitrag über Per Olov Enquists neuen autobiografischen Roman „Das Buch der Gleichnisse“ erwähnt. In diesem Roman erfüllt ein Mann den Wunsch seiner Geliebten, ihr nach (!) ihrem Tod einen Liebesbrief zu schreiben. Aus diesem Liebesbrief entsteht ein Roman und diesen halten wir in der Hand, weiterlesen
16. August 2013
ALLES IST ERLEUCHTET
Gestern hat mich die überdimensionale Apple-Werbung an einer Hotelfassade hinter dem Berliner Hauptbahnhof überrascht. Zu sehen ist ein iPad, eine Schreibmaschine und ein Buch: „Alles ist erleuchtet“ von Jonathan Safran Foer. Eine humorvolle wortspielerische Anspielung auf die erleuchtungs- und erfindungsreiche Historie von Apple?!
Das Erstaunliche: Foers großartiger Bestseller ist bereits rund 10 Jahre alt. Aber er passt einfach gut, nicht zuletzt deshalb, weil der Autor einen zweiten Erzähler erfindet, der ein lustig-falsches Englisch spricht und zum Beispiel den Ausdruck „wahrheitlich“ gerne im Munde führt. Schöner als mit „wahrheitlich“ könne man die Ambition des Romans, Erfindung und Erinnerung in eins zu bilden, kaum ausdrücken, meinte Hubert Winkels von der ZEIT damals. weiterlesen
10. August 2013
LIFE BEGINS AT THE END OF YOUR COMFORT ZONE
Letzten Donnerstag Abend: Ich zappe spätabends durch die TV-Programme und bleibe bei Beckmann hängen, als er einen neuen Talkgast mit der Frage ankündigt: „Woran denken Sie bei Freewriting?“ Ich traue meinen Ohren nicht. Ein Gast in einer Late Night Talkshow, der sich auf Freewriting spezialisiert hat? Ist ja großartig!
Nun, Sie ahnen sicher, wie es weiter ging. Einer der Gäste sagt „Schnee“, ein anderer „Snowboard“ und Beckmann sagt „Richtig, und Off-Pisten-Skifahren. Und ich freue mich, Ihnen eine Freeriding-Spezialistin vorzustellen. Eine der besten der Welt.“
O.k., soweit zum Aspekt: Man hört nur was man kennt!
Lorraine Huber fasziniert mich trotzdem und während des Interviews ziehe ich automatisch Vergleiche zwischen Freeriding und Freewriting. weiterlesen
04. August 2013
BEACH LIBRARIES
Nach meiner freien Sommerzeit springe ich heute zurück in meinen Blog und freue mich, mit Ihnen wieder in Kontakt zu sein.
Falls Ihr Sommer-Urlaub ebenfalls schon vorbei ist, fragen Sie sich vielleicht wie ich, welche inneren Bilder das Urlaubsgefühl in uns bewahren können. Eine individuelle visuelle Trutzburg sozusagen – gegen den Bildersturm aus der Arbeits-Außenwelt.
Mein Vorschlag: Bilder von beach libraries. Am Strand im Sand aufgestellte Regale, in denen eine Menge Bücher zum Ausleihen für die klassische Strandlektüre vorhanden sind.
Durch Zufall bin ich auf die Strandbibliothek von Albena Resort in Bulgarien gestoßen, die es bereits seit drei Jahren gibt. Hier kann man kostenlos tausende Bücher in allen möglichen europäischen Sprachen ausleihen. weiterlesen
30. Juni 2013
RILKE ALS TATTOO
In dieser Woche ist ein Tattoo – ja, ein Tattoo! – immer wieder durch die unterschiedlichsten Medien gegeistert: ein Tattoo von Lady Gaga, bekannt nicht nur für ihre Musik und ihre Aufsehen erregenden Aktionen, sondern auch für ihren intellektuellen Hintergrund.
Das Tattoo – riesengroß auf ihrem linken Unterarm – ist ein Rilke-Zitat. Es begleitet mich sowohl in meiner Arbeit als Schreibcoach als auch in meinem eigenen Schreiben schon seit langem und lautet folgendermaßen:
“Prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: Muss ich schreiben?“
Diese Zeilen stammen aus dem ersten von insgesamt zehn Briefen an einen jungen Dichter, weiterlesen
23. Juni 2013
DEM GEISTESMENSCHEN IST DAS SO GENANNTE NICHTSTUN JA GAR NICHT MÖGLICH
Gestern. Samstag Abend. Fernsehabend.
Beim Fernsehprogrammheft-Blättern springt mir ein Film mit Namen „Die Auslöschung“ ins Auge. Eine mir unbekannte Verfilmung von Thomas Bernhards zentralem Roman „Auslöschung“? Nein, der neue Film mit Gedeck und Brandauer, in welchem dieser einen Kunsthistoriker spielt, der an Alzheimer erkrankt.
Ich sehe mir den Film trotzdem an und mache dann mit einer echten Literaturverfilmung weiter: Der talentierte Mr. Ripley von Patricia Highsmith. Die ersten drei Sätze des Films – gesprochen von der Hauptfigur aus dem Off – lauten: “Könnte ich doch nochmal von vorne anfangen. Könnte ich doch alles auslöschen. Einschließlich mich selbst.“
Heute. Sonntag Vormittag. Traditionell der Nichtstun-Tag der Woche. weiterlesen
16.06.2013
AHBEZEH DEÄFFGEH IJOTTKAH ELMNOPEH KUHEREST UFF AU WEH!
Heute ist für mich ein besonderer Tag: Bloomsday!
Der Tag, an dem der Jahrhundertroman Ulysses spielt und der an vielen Orten auf der Welt gefeiert wird. Dieses Buch begleitet mich seit mehr als einem halben Jahr täglich und es ist mir mittlerweile sehr ans Herz gewachsen.
Ich weiß: für viele Menschen scheint der Ulysses unverständlich und ohne jedwede Verbindung zu ihrem eigenen Leben. Für mich hingegen entfaltet dieses Buch immer wieder aufs Neue seine Magie. Beispielsweise dann, wenn gerade Gelesenes sich in meinem konkreten Alltag spiegelt:
Wenn wir in meinem Ulysses Buchclub gerade über das „tote Vögelchen in der Küchenstreichholzschachtel“ sprechen und ich wenige Minuten später auf dem Weg zur U-Bahn einen toten überfahrenen Spatz auf der Straße sehe. weiterlesen
09. Juni 2013
WASSER, ZITTERE FÜR MICH
Eine meiner Klient*innen arbeitet gerade an literarischen Miniaturen. In diesem Zusammenhang bin ich auf Peter Handkes so genanntes „Selbstporträt aus unwillkürlichem Selbstgesprächen“ aus dem Jahr 2006 gestoßen. Kleine Aphorismen, Einzelsätze, Ein-Satz-Miniaturen. Zusammen gelesen und gedacht ergeben sie eine Art Porträt des Denkers.
Heute sah ich eine junge barfüßige Nachbarin auf ihrer Terrasse. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Gartenschlauch mit Sprühkopf und goss in aller Seelenruhe ihre vielen großen Kübelpflanzen, während sie in der linken Hand ein Buch hielt, in dem sie gleichzeitig las. Völlig entspannt bewegte sie den Schlauch hin und her und sanft und synchron dazu ihren gesamten Körper.
Ich beobachtete sie fasziniert und es kam mir so vor, weiterlesen
02. Juni 2013
BIBLIOTHÈQUE HUILE ET VINAIGRE
In dieser Woche bin ich auf zwei Bibliotheken gestoßen, die gar keine sind.
Die erste befindet sich in der Lebensmittelabteilung der Galeries Lafayette. Dort sind Öle und Essig wunderschön um eine dicke Säule herum positioniert. Und auf dieser Säule steht Bibliothèque Huile et Vinaigre. Ich war wirklich verblüfft und habe mich gefragt, ob dies im Französischen eine ganz selbstverständliche Bezeichnung ist oder ob sich das die Galeries Lafayette ausgedacht haben. Eine Angestellte, die ich befragt habe, hat nur – etwas peinlich berührt – mit den Schultern gezuckt. Aber so wie es scheint, ist es eine Lafayette-Erfindung. Im Wörterbuch und im Netz ist diese Bezeichnung jedenfalls nicht zu finden. weiterlesen
25. Mai 2013
DIE CHAMPIONSLEAGUE DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR
In genau einer Stunde beginnt das Champions League Finale in London. Borussia Dortmund gegen Bayern München. Und während im Nebenraum Vorberichte über den Bildschirm flimmern, frage ich mich, was man unter einer literarischen Champions-League verstehen könnte. Vielleicht einen Londoner Poetry-Slam, bei dem zum ersten Mal zwei deutsche Autor*innen in der Endrunde gegeneinander antreten und vom Publikum angefeuert werden?
Ich bin neugierig und recherchiere, in welchem Zusammenhang beide Begriffe schon einmal aufgetaucht sind. Ich finde im Grunde lediglich zwei Hinweise:
2010 wurde dem 10ten Kölner Internationalen Literaturfest bescheinigt, dass es mit seinem Etat von 1,2 Millionen Euro mittlerweile „auf literarischem Champions-League-Niveau angekommen“ sei.
Und der 30ste Ingeborg Bachmann Wettbewerb im Jahr 2006, weiterlesen
19. Mai 2013
IN FREMDEN ZUNGEN SPRECHEN
Heute ist Pfingstsonntag. Der Tag, an dem die Apostel erlebten, wie „ein Brausen vom Himmel“ geschah „wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer (…) und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen.“
Natürlich ist das bildlich gesprochen. Bilder voller Kraft. Wie gute Poesie. Und doch gibt es Menschen, für die es sich bei diesen Bildern nicht um Symbole handelt, sondern die daran glauben, dass dies greifbare Realität war.
Das erinnert mich an einen Film, den ich letzten Sonntag gesehen habe: Bright Star von Jane Campion. weiterlesen
12. Mai 2013
„ICH FREUE MICH AUF IHREM BRIEF“
Seit meinem Blogeintrag vom 21. April habe ich immer wieder Anmerkungen zum Thema Dativ und Genitiv erhalten. Heute möchte ich drei davon mit Ihnen teilen.
Eine STORYtravelling-Teilnehmerin outet sich beispielsweise als „Grammatik-Fan“ und dass sie entsprechend auch den Genitiv liebe.
„Der englische Genitiv schleicht sich allmählich wie ein Trojaner in unsere Sprache ein. In einem Bistro in Weissensee stand auf einem Plakat die Ankündigung: Unsere nächsten Event´s. Auch Baguett´s habe ich schon gesehen. Wann werden uns die neuesten Auto`s angeboten?“
Ihr Vater habe sich in ihrer Kindheit große Mühe gegeben, „mich so lange zu verbessern, bis ich auch „trotz des“ und „wegen des“ verinnerlicht hatte.“ Diese Art von Verbesserungen kennen Sie vermutlich ebenfalls. weiterlesen
04. Mai 2013
WELCHES WIRD DAS LETZTE BUCH SEIN, DAS WIR IN UNSEREM LEBEN LESEN?
Vor zwei Tagen war ich Premierengast der Künstlerkooperative Cultura, die jedes Jahr in Hildesheim eine besondere Performance inszeniert. Immer künstlerisch überraschend, innovativ, lustvoll und gesellschaftskritisch gleichzeitig. Die aktuelle so genannte performative Ess-Installation heißt „feedMe“ und dreht sich in locker ineinander gewobenen Szenen um das, was uns nährt.
Lebensmittel, klar, aber auch geistige Nahrung. Dazu passend sind in einer Wandnische rund zweitausend Bücher aufeinander und ineinander gestapelt und Tänzer Gustavo Fijalkow versucht, diese steile Bücherwand – ein herausforderndes Buchmassiv – in einer Art freeclimbing hinaufzuklettern, indem er auf „hervorragende“ Bücher steigt, sich an ihnen festhält und – egal, wie geschickt er sich anstellt – früher oder später scheitern muss, weiterlesen
28. April 2013
WELTTAG DES BUCHES
Am Dienstag hatte mein neues Format STORYtravelling Premiere. Für diesen ersten literarischen Überraschungsspaziergang als Inspiration für eigene Geschichten habe ich den 23. April gewählt, den Welttag des Buches, ursprünglich eine katalanische Tradition und der Todestag von Cervantes.
Entsprechend war Don Quijote unser Gefährte. Er ist im Antiquariat Düwal zu uns gestoßen, das eine wunderschöne alte zweibändige Ausgabe des Don Quijote mit alten Stichen besitzt. Und er hat uns begleitet bis zur Vernissage der literarischen interaktiven Klang-Installation „Es war auf einmal Don Quijote de La Mancha“ im Instituto Cervantes.
Diese Installation hat mich beeindruckt: Fünfzig Vorleser haben sich die Lektüre des kompletten Don Quijote aufgeteilt. Die Lesung wurde aufgenommen und so bearbeitet, weiterlesen
21. April 2013
DER IRRGARTEN DEUTSCHER SPRACHE
Können Sie sich an das Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ von Bastian Sick erinnern? Dieser Titel erschien vor zehn Jahren und avancierte schnell zum Bestseller. Mittlerweile gibt es bereits den fünften Band aus unserem „Irrgarten der deutschen Sprache.“
Gestern schreibt die taz über den „Tod vom Genitiv“ und dass dieser nicht aus seiner Opferrolle herauskomme und es auch nur dem Dativ seine Schuld sei, dass sich der Genitiv rar mache, denn auch der Nominativ – genauer gesagt: die undeklinierte Form des Substantiv – sorge dafür. So!
Und bevor Sie sich fragen, was genau das bedeutet, hier ein paar Beispiele:
bei Ländernamen wie dem des Iran oder des Irak
beim „Buddenbrookhaus im Zeichen des Exil“ (3sat Videotext)
„Die Rückgabe von Non-Food-Artikeln ist gegen Vorlage des Kassenbon innerhalb von 3 Monaten möglich“ (Penny-Märkte)
„The Quest – der Fluch des Judaskelch“ und „Der Stich des Skorpion“ (Film-Titel)
Das Genitiv-„s“ fehlt also quer durch alle Medien-Niveaus und auch die taz selbst ist nicht davor gefeit, weiterlesen
14. April 2013
SEMINARCOCKTAIL
Dieses Wochenende war wie ein guter Cocktail: Mein Seminar Achtsames Schreiben an der Akademie Burg Fürsteneck.
Die Zutaten: eine liebevoll restaurierte Burg, ein großzügiger und gut ausgestatteter Seminarraum unterm Dach, mit Holzboden und Rundumblick in die Landschaft, eine wunderbare engagierte Fachbereichsleiterin, interessante Parallelkurse, freundliches Personal und nicht zuletzt gutes Essen.
Aber die entscheidende Hauptzutat: sechs persönlichkeitsstarke Teilnehmer*innen, die unter Beweis gestellt haben, dass Achtsamkeitspraxis keinesfalls ausschließlich etwas ist, das Jemand für sich allein in aller Stille und Zurückgezogenheit praktiziert, sondern gerade im gemeinsamen künstlerischen Tun einen vitalen freudesprühenden Ausdruck erhalten kann. Die Mischung dieser beiden Qualitäten ist mir besonders wichtig.
Und so war dieses Wochenende nicht nur hochkonzentrierte und durchaus anstrengende Arbeit, weiterlesen
7. April 2013
WHAT IS THE RELATIONSHIP BETWEEN THE WORLD AND THE ARTIST?
Ich komme gerade von der Yoko Ono Ausstellung in der Frankfurter Schirn, die anlässlich des 80. Geburtstags der Künstlerin eine große Retrospektive zeigt.
Onos vielseitiges, anregendes und engagiertes Werk beeindruckt mich sehr. Als wegweisende Fluxus-Künstlerin war ihr Sprache immer äußerst wichtig (ganz abgesehen davon, dass sie in New York unter anderem Creative Writing studiert hat). Zum Beispiel in ihren Touch Poems oder den vielen Instruction Pieces und Event Scores: in Worten, nicht in Notenschrift festgehaltene Partituren, die zu körperlichen Aktionen auffordern.
Im Zug zurück nach Berlin lese ich im Katalog ihre Rede „What is the Relationship between the World and the Artist?“ die sie 1971 im Rahmen des Film Festivals von Cannes gehalten hat. weiterlesen
31. März 2013
DIE ZEIT IST EINE KARAWANSEREI
Heute ist Ostersonntag und außerdem wurden die Uhren heute Nacht um eine Stunde Richtung Sommer vorgestellt. Zwei menschengemachte zeit-bezogene Festlegungen… die auch unsere Wahrnehmung von Zeit durchaus beeinflussen können.
Heute möchte ich Ihnen eine wohltuende Osterzeit wünschen und ein paar Zeilen aus Gottfried Kellers Gedicht „Die Zeit geht nicht…“ mitsenden.
Ein Coachingklient hat mich auf dieses Gedicht aufmerksam gemacht in Verbindung zu meinem Blogeintrag vom 16. März und Bas Böttchers Zeilen zur Zeit, die so wunderbar doppeldeutig „passiert“: die anhaltende Zeit / sie passiert dir / sie passiert dich…
Gestern hat Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung Salman Rushdie interviewt, der unter anderem über die „internationale Republik der Autoren“ und über die Freiheit als universalen Wert gesprochen hat.
Rushdie hat sich in seiner vor wenigen Monaten erschienenen Autobiografie Joseph Anton die Freiheit eines neuen Namens gegeben – zusammengesetzt aus den Vornamen zweier seiner literarischer Vorbilder, Joseph Conrad und Anton Tschechow. In Joseph Anton schreibt er beeindruckend von den Jahren der Fatwa. Damals war es seine Aufgabe zu kämpfen, wie er sagt: ums Überleben, um seinen Beruf und um „die Freiheit der Kunst, des Wortes, des Lesens.“
Kein Wunder, dass er – wie Frank Schirrmacher im Dezember bei der Buchvorstellung hier in Berlin formulierte – als eine Art „Freiheitsstatue“ gilt, weiterlesen
16. März 2013
ERZÄHLERISCHE GERECHTIGKEIT
Komme gerade von der Leipziger Buchmesse zurück. Zweimal war ich dieses Jahr dort, heute als Exkursions-Leiterin gemeinsam mit elf sehr interessierten Gasthörer*innen der FU Berlin.
Und wieder ist das passiert, das manchmal passiert, wenn man innerhalb weniger Stunden verschiedene Autor*innen und Veranstaltungsformate aufsaugt: plötzlich scheint es eine Art roten Faden zu geben, der alles auf geheimnisvolle Weise miteinander verbindet.
Mein roter Faden heute: die vergehende Zeit und was diese mit den Autor*innen und deren Figuren und Erinnerungen macht.
Robert Schindel hat am Vormittag begonnen, für mich diesen Faden zu spinnen, als er von seinem neuen Buch Der Kalte erzählt hat. Im Zentrum steht der KZ-Überlebende Edmund Fraul: dem Lager nie entkommen, weiterlesen
10. März 2013
DAS IMAGE VON BIBLIOTHEKARINNEN
Gestern lande ich beim TV-Zappen zufällig in der Literaturverfilmung „Wenn wir alle Engel wären“ aus dem Jahr 1956 nach dem Roman von Heinrich Spoerl. Marianne Koch, Dieter Borsche und Gustav Knuth verhandeln das Thema „Ordnung, Sauberkeit und Pflichtbewusstsein“ – so lautet die Lebensdevise des Protagonisten Christian Kempenich.
Raten Sie mal, welcher Beruf diesem Mann mit oben genannten preußischen Tugenden angedichtet wurde…. Bibliothekar!… Stadtbibliothekar eines kleinen Moselstädtchens. Und Sie ahnen schon, dass sowohl er als auch seine Frau moselhaft verführt von Wein, Weib und Gesangslehrer in ihrer Moral herausgefordert werden und sie schließlich erkennen, dass Ordnung, Sauberkeit und Pflichtbewusstsein zwar wichtig sind, aber Menschen auch Fehler machen dürfen – schließlich sind sie keine Engel. weiterlesen
02. März 2013
WAS IST DAS SCHÖNSTE BUCH, DAS SIE KENNEN?
Was ist das schönste Buch, das Sie kennen (und vielleicht sogar besitzen)?
Und mit „schön“ meine ich nicht – aber das haben Sie bereits geahnt – den Inhalt, sondern die ästhetische Präsenz (die natürlich durchaus mit dem Inhalt in enger Verbindung stehen kann). Das Buch als künstlerisches Objekt, als visuelle und vielleicht sogar haptische Besonderheit.
Die Stiftung Buchkunst prämiert seit 1963 jedes Jahr eine Reihe dieser Bücher in Leipzig, die durch herausragende Buchgestaltung und Buchherstellung auffallen. Mittlerweile konkurrieren rund 600 Bücher aus rund 30 Ländern miteinander.
Hauptpreis ist die so genannte Goldene Letter, vergeben für „das schönste Buch der Welt“ und diese Auszeichnung klingt so aufregend wie anmaßend, weiterlesen
24. Februar 2013
MUSS DIE KLEINE HEXE MODERNISIERT WERDEN?
In dieser Woche ist Otfried Preußler gestorben. Und es ist erst knapp ein Monat her, seit die Ankündigung seines Verlags, die Kleine Hexe zu „modernisieren“ eine große, zum Teil unerfreuliche Mediendiskussion ausgelöst hat (siehe auch mein Blogeintrag vom 13. Januar).
Es macht mich ein wenig traurig, dass ausgerechnet diese Art der Kontroverse die letzte Publicity war, die Preußler noch kurz vor seinem Tod hat erleben müssen. Ob ihn diese ganze Diskussion gewundert hat? Oder vielleicht im Gegenteil amüsiert? Kalt gelassen? Hat sie ihn verletzt? Und hätte er womöglich seine Zustimmung zu den Änderungen gerne wieder zurückgenommen, nachdem er sich ja jahrelang DAGEGEN ausgesprochen hatte.
Vor ein paar Tagen habe ich meine Hausmeisterin zufällig im Treppenhaus getroffen. Sie ist eine sehr sympathische, offene und vielseitig interessierte Frau Mitte Fünfzig. Ich weiß nicht, aus welchem Land sie ursprünglich kommt, aber ihr Deutsch ist manchmal etwas schwierig zu verstehen.
Wir unterhalten uns oft über Bücher und dieses Mal erzählt sie mir, dass sie gerade ein ganz besonderes Buch für sich entdeckt hat (…und macht eine Pause…) und sieht mich an.
„Welches denn?“
„Die Bibel!“ Sie strahlt. So viele faszinierende Geschichten sind da drin, sagt sie, und es enthält Antworten auf alle Fragen, die man so hat. Morgens blättere sie oft darin und zur Zeit sei ihre Lieblingsgeschichte „die mit dem verspannten Himmel.“
„Verspannter Himmel?“
„Ja,“ sagt sie und zeichnet mit ihren beiden Armen einen großen Halbkreis über ihrem Kopf. weiterlesen
10. Februar 2013
FRAUENWANDLUNG
So viele Rückmeldungen auf meinen Aufruf im letzten Blogeintrag hin, man möge mir doch um Himmels Willen mal Zitate von Frauen zum Thema Wandlung senden, da ich ausschließlich über männliche Zitate stolpere. Vielen Dank!
Viriginia Woolf und Ingeborg Bachmann wurden mehrfach genannt. Auch Nathalie Sarraute, aus deren „Kindheit“ die Passage stammt: „Stimmt das auch? Hast du wirklich nicht vergessen, wie es darin war? Wie alles darin schwankt, sich verwandelt, sich davonmacht…“
Oder ein Satz von Anais Nin: „Eines Tages kam der Augenblick, an dem das Risiko fest in einer Knospe verschlossen zu sein schmerzhafter war, als das Risiko zu erblühen.“
Und eine Vortragsteilnehmerin hat den Titel einer wissenschaftlichen Arbeit gemailt: Sprachproblematik bei Ingeborg Bachmann unter der Berücksichtigung der Wandlung des Problembewusstseins im gesamten Schreibprozess. weiterlesen
02. Februar 2013
SIND FRAUEN NICHT ZITIERBAR?
Gestern habe ich einen Vortrag zum Thema „Schreibprozesse: Das Prinzip der Wandlung“ gehalten und dafür Zitate von Schriftsteller*innen gesucht, die Interessantes zum Thema „Wandlung“ gesagt haben.
Zunächst irritiert, dann erstaunt und schließlich ärgerlich war ich aufgrund der Tatsache, dass in den klassischen Zitatdatenbanken zwar die üblichen männlichen Zitatpromis wie Goethe, Rilke, Hesse oder Heraklit zu finden sind, aber tatsächlich kein einziges Zitat einer Autorin.
Und das, obwohl „Wandel“ – nicht zuletzt aus biologischen Gründen – ein zentrales weibliches Thema ist und in Romanen von Frauen eine durchaus relevante Rolle spielt. Oder ist genau das der Grund? Eben WEIL es als zu vielschichtig, differenziert und existentiell empfunden wird, weiterlesen
25. Januar 2013
HAT DER KÖRPER ETWAS IN ROMANEN ZU SUCHEN?
Hat der Körper etwas in Romanen zu suchen?
Und damit meine ich nicht etwa romantisch-erotische Beschreibungen, die den Autor*innen in guter Tradition auf die Seiten fließen, sondern alltägliche Verrichtungen und schambesetzte Bereiche, die erst die Moderne Literatur zwischen Buchdeckeln geboren hat.
Aber kann so etwas überhaupt gute Literatur sein? Fragte gestern recht empört eine Seminarteilnehmerin. Sie wolle nicht lesen, wie jemand über seinen Stuhlgang reflektiere. Sie fände das ekelerregend und unästhetisch.
Eine sehr interessante Frage, aber im Grunde grotesk: dass etwas, das alle Menschen (und somit auch alle Leser*innen!) verbindet, nämlich der tägliche Stuhlgang, für die Kunst tabu sein soll.
Je weiter weg vom so genannten banalen Alltagsleben, weiterlesen
Ich hoffe, Sie sind literarisch gut eingetaucht in den „Strom des Lebens 2013“– um an meinen letzten Blogeintrag in 2012 anzuknüpfen. War es ein sanft dahinziehender Strom? Ein reißender? Oder vielleicht so etwas wie ein Strudel, Mahlstrom, der einen in die Tiefe zieht und nicht mehr loslässt? So ging es mir mit Ulysses, der mich in den Schottischen Highlands begleitet hat.
Bei dieser Re-Lektüre ist mir wieder besonders deutlich geworden, wie unterschiedlich die Wirkung eines Buches ist, je nachdem, in welchem Alter, welcher Lebensphase, mit welchem Erfahrungshintergrund man es liest. Und: welcher aktuelle Zeitgeist inklusive vorherrschender Moral-Vorstellungen gerade herrscht. Auch dieser nimmt Einfluss: bei persönlicher Lektüre ebenso wie bei der professioneller Lektüre von Verlagen und Agenturen. weiterlesen
2012
22. Dezember 2012
EIN UNGLAUBLICHES BUCH
Zwei Tage bis Weihnachten… Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die Weihnachten genießen oder zu denen, die froh sind, wenn diese Zeit endlich wieder vorbei ist.
So oder so: Ich wünsche Ihnen wohltuende Weihnachtstage – falls Sie diesen Stoffbahneintrag tatsächlich in diesen Tagen lesen.
Vielleicht aber ist JETZT in dieser Minute, gerade der 5. Oktober, 1. Mai oder womöglich der 16. Juni: der Tag, an dem Ulysses spielt?!
Die 1000 Seiten dieses Jahrhundertbuchs werden mich über Weihnachten und Silvester begleiten (ich leite ab Januar einen FU-Buchclub zu diesem Werk), wenn ich in den schottischen Highlands zwar nicht in Irland, aber immerhin in der Nähe sein werde. weiterlesen
09. Dezember 2012
„IN MEINER FAMILIE WURDE GESCHWIEGEN.“
Eigentlich wollte ich heute aus Mails zitieren, die ich auf meinen letzten Blogeintrag hin erhalten habe. Aber das werde ich nun auf nächste Woche verschieben, denn gerade eben, als ich von einem schönen Schneespaziergang zurückkomme, treffe ich eine Nachbarin, Künstlerin aus Hamburg, die mit zwei großen Plastiktüten an den Mülltonnen steht – „noch im Pyjama“, sagt sie lachend. Und obwohl ihr sicherlich sehr kalt ist, unterhalten wir uns eine Weile in der Dunkelheit im Schnee stehend und es entspinnt sich wie aus dem Nichts ein Gespräch über die Kraft der Literatur.
Sie habe sich gerade im Internet einen Weltempfänger bestellt, erzählt sie, da könne sie endlich mit der Welt in Verbindung sein (und lacht wieder), weiterlesen
02. Dezember 2012
YOU ONLY LOOK ONCE
In dieser Woche wurde im Literaturhaus Berlin mal wieder über die Zukunft des Buchs diskutiert. Zu Beginn waren sich zwar Alle einig, NICHT„das Loblied des Buches“ zu singen, aber es lief dennoch auf das uns allen bekannte Lied hinaus: auf den Punkt gebracht: die haptische und auratische Präsenz des Mediums.
Entsprechend wichtig sei es, sich auf dieses – ich nenne es mal – Alleinstellungsmerkmal zu konzentrieren und dieses zu verbessern, jenseits von Dünndruck, Leinen und Lesebändchen.
Die Gegensätze scheinen immer extremer zu werden. In Bezug auf Romane als e-book einerseits oder als klassische Printausgabe andererseits heißt das: Anarchische Publikationsflut versus althergebrachtes Verlagswesen. Inhalt versus Form. Schnelle Unterhaltung versus langsame Eroberung. weiterlesen
25. November 2012
DER LANGE WEG ZUR TEETASSE
Eben habe ich auf meinem Literaturkalender entdeckt, dass heute Anthony Burgess’ Todestag ist. Vermutlich ist mir das nur deshalb ins Auge gesprungen, weil ich gerade das Hörbuch „Der lange Weg zur Teetasse“ höre. Dieses Kinderbuch von Burgess ist nicht mehr lieferbar. Umso schöner, dass man sich in das Hörbuch (in Übersetzung und gelesen von Harry Rowohlt) hineinfallen lassen kann… so wie sich unser Held Edward, (der die nölige Stimme des Lehrers anhören muss, wie dieser über die langweiligen Könige der Angeln und Sachsen doziert und der sich sehnlichst woanders hin wünscht) durch ein Loch fallen lässt.
Edwards Pult hat nämlich Pockennarben von winzigen Löchern, wie sie ein kritzelnder Zirkel macht. weiterlesen
18. November 2012
5,2 LFM
„Wenn es ein Schicksal gibt, dann ist Freiheit nicht möglich. Wenn es aber die Freiheit gibt, dann gibt es kein Schicksal. Das heißt also, wir selbst sind das Schicksal.“
Das hat der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész einmal im Zusammenhang mit seinem berühmtesten Werk Roman eines Schicksalslosen gesagt, in welchem er die Geschichte des 15- jährigen György erzählt, der nach Auschwitz und Buchenwald deportiert wird. Die Zugfahrt in den Viehwaggons erlebt dieser wie ein Pfadfinderabenteuer. Und seine naiven, kindlichen Sätze wie „Ich kann sagen, auch ich habe Buchenwald bald liebgewonnen.“ oder „Ein bisschen möchte ich noch bleiben in diesem schönen Konzentrationslager.“ machen uns Leser*innen auf besondere Weise betroffen und erinnern auch an den Film „Das Leben ist schön“. weiterlesen
11. November 2012
DER BUCHHÄNDLER ALS SONDERLING
„In einer schmalen, sonnenlosen Gasse Barcelonas lebte vor nicht allzu langer Zeit einer von jenen Männern mit bleicher Stirn, trüben, eingesunkenen Augen, eines von jenen sonderbaren, satanischen Wesen, wie Hoffmann sie in seinen Träumen fand.“
Dies ist der erste Satz einer Erzählung, die ich in dieser Woche geschenkt bekommen habe. Der Autor ist sehr berühmt, allerdings nahezu ausschließlich durch sein Hauptwerk. Diese kleine Geschichte ist zwanzig Jahre zuvor, 1837, in der Zeitung seiner Heimatstadt Rouen erschienen. Seine erste Veröffentlichung überhaupt. 15 Jahre alt war er damals.
Die Hauptfigur, die in diesem ersten Satz charakterisiert wird, ist von Beruf Buchhändler. Und natürlich haben wir es mit einem klassischen Buchhändler-Klischee zu tun: bleich (weil nicht an der Sonne, weiterlesen
04. November 2012
„DAS MEISTE PASSIERT JA IM KOPF.“
Vorgestern habe ich mir in der Theaterwerkstatt Hannover das Tanzstück Fukushima mon amour angesehen. Der Butoh-Tänzer Tadashi Endo (der diesen Tanz in Deutschland bekannt gemacht hat und den Sie vielleicht aus Doris Dörries Film Hanami kennen), hat als Kind viel Zeit mit seiner Großmutter am Strand von Fukushima verbracht. Hier tanzt er auf der Bühne seine persönlichen Erinnerungen, Emotionen und Assoziationen zur Katastrophe, die gleichzeitig weit darüber hinausreichen.
Später am Abend komme ich mit ihm ins Gespräch. Er erzählt mir von der Kraft der Haikus – die berühmte japanische Lyrikform – und dass er keinen rechten Sinn für Romane habe. Diese seien so detailliert und versuchten psychologisch alles komplex in der Breite auszudrücken, weiterlesen
27. Oktober 2012
WÖLFE
Was für ein Gefühl das wohl ist, wenn einem attestiert wird, man habe die Regeln eines literarischen Genres neu definiert!?
So geschehen diese Woche, als Hilary Mantel mit dem wichtigsten britischen literarischen Preis, dem Booker Prize, ausgezeichnet wurde. Sie erhielt ihn für Ihren Roman „Bring up the bodies“, der im Frühjahr 2013 bei DuMont unter dem Titel „Falken“ erscheinen wird und im England zur Zeit Heinrich VIII spielt.
Das Genre, das durch sie neu definiert wurde, ist der Historische Roman und das, was sie so ausgezeichnet macht, ist „handwerklich perfekte Literatur, in der brillanter Stil mit funkelndem Witz den melancholischen Grundton der Sprache aufhellt.“
Aber das vielleicht Erstaunlichste: Die 60-Jährige Autorin, weiterlesen
21. Oktober 2012
C und Z
In dieser Woche habe ich mehrere Tage im Stuttgarter IBIS Hotel an der Siemensstraße übernachtet. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht ein Haus:
Im Erdgeschoss ist das Einrichtungshaus Domicil untergebracht. Ganz zeitgenössisch schreibt es sich mit „c“ und auf den Fensterscheiben sind modern-abstrakte selbsthaftende Blumentattoos als Deko angebracht.
In den oberen Stockwerken befindet sich ein Altenheim, dessen Name in großen Lettern auf die Hausfassade gemalt ist: Senioren-Domizil. Ganz traditionell schreibt es sich mit „z“. Auf den Fensterscheiben kleben ebenfalls Blumen: altmodische, aus Tonpapier gebastelte Sonnenblumen.
Ein Wohnort und ein Wohnungseinrichtungsort in ein und demselben Haus. Zweimal fast dasselbe Wort auf der gleichen Hausfassade. Einrichtung und Ausstrahlung dieser beiden Orte könnten unterschiedlicher kaum sein. weiterlesen
14. Oktober 2012
ONE OF THE COOLEST LIBRARIES IN THE WORLD
In dieser und der kommenden Woche leite ich Workshops für ehrenamtliche Vorleser*innen in der neuen Stadtbibliothek Stuttgart, die vor rund einem Jahr eröffnet wurde. Ein architektonisch beeindruckender Bau des Südkoreaners Eun Young Yi. Im Inneren des „Würfels“ mit 44 Metern Seitenlänge und einer Glasfassade, die nachts blau leuchtet, sind rund 500.000 Medieneinheiten auf insgesamt acht Ebenen untergebracht. Außerdem gibt es eine „Bibliothek für Schlaflose“ (schöner Begriff, nicht wahr?) ein Skriptorium, Klangstudio, Graphothek und nicht zuletzt eine Vielzahl an raffinierten Treppen, die wie ein Bild von Escher wirken. Futuristisch eben.
Auffallend ist auch das Farbkonzept des Architekten: KEINE Farbe! Für ihn war entscheidend, dass die gesamte Architektur und somit auch die Inneneinrichtung „zurücktritt“ und so „unsichtbar wie möglich“ ist. weiterlesen
07. Oktober 2012
DER ALLWISSENDE ERZÄHLER
„Da wächst was nach.“ und: „Die Achtziger sind da.“ titelt die ZEIT und meint damit „Deutschlands jüngste Autorengeneration“, deren Autor*innen jetzt um die dreißig Jahre alt sind.
In den 90er Jahren des vorigen Jahrtausends wiederum wurde die letzte so genannte Autorengeneration geboren, vermarktet unter dem Label „Popliteratur“. Dazu gehörten „Fräuleinwunder“ Judith Hermann ebenso wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Elke Naters, Alexa Hennig von Lange, Sibylle Berg oder Christian Kracht.
Kracht, damals mit seinem Erstling Faserland bekannt geworden, ist spätestens jetzt – man könnte sagen: sprachlich aufgestiegen. Er gehört nun nicht mehr der „jüngsten“, sondern der „jüngeren“ Autorengeneration an und erhält, wie in dieser Woche bekannt wurde, den Wilhelm-Raabe-Preis (der mit 30.000 Euro höchstdotierte Literaturpreis Deutschlands) für seinen Roman „Imperium“, weiterlesen
30. September 2012
MAL WAS ANDERES: POSITIVE AUSWIRKUNGEN DURCH NEUE MEDIEN
Gerade komme ich aus dem Sauerland zurück. Dort habe ich drei Fortbildungen für ehrenamtliche Vorleser*innen geleitet und natürlich war auch der Aspekt „Lesen contra Computer & Handy“ immer wieder Thema. Die Balance zu halten zwischen vorurteilsfreiem Akzeptieren der starken Präsenz Neuer Medien im Lebensalltag von Kindern einerseits und dem vorbehaltlosen Fördern der Lesekultur andererseits ist nicht leicht.
Auf dem Rückweg nach Berlin lese ich in der Wochenendausgabe der SZ den Artikel „Google statt Gehirn“, der – ideal zum Thema passend – von einigen positiven Auswirkungen des Umgangs mit Neuen Medien berichtet, die mittlerweile eindeutig nachgewiesen werden konnten. Diese Kinder haben einen wesentlich besseren Umgang mit Bildern und Symbolen, weiterlesen
21. September 2012
EIGENTLICH
Gehören Sie zu den Menschen, die EIGENTLICH gern regelmäßiger schreiben würden, aber EIGENTLICH keine Zeit dafür haben? Gründe für diesen Zeitmangel aufzulisten, spare ich mir. Wir kennen sie alle.
Eine von vielen Möglichkeiten, trotz Zeitmangel wieder in Schreibfluss zu kommen, sind die Morgenseiten, die morning pages, die Julia Cameron in ihrem berühmten Buch Der Weg des Künstlers beschrieben hat: jeden Morgen direkt nach dem Aufwachen drei Seiten zu schreiben, mit der Hand natürlich, und möglichst noch im Bett. Einfach aufschreiben, was einem in die Hand fließt. Dafür braucht man – mit ein wenig Übung – nicht länger als 15 Minuten.
Das bedeutet: den Wecker lediglich 15 Minuten früher stellen und schon haben Sie jeden Tag geschrieben… weiterlesen
16. September 2012
WIE EIN BUCH DAS EIGENE LEBEN BEEINFLUSSEN KANN
In dieser Woche ist schon wieder etwas Besonderes passiert, das mit Doris Lessings Goldenem Notizbuch zu tun hat (siehe letzter Stoffbahn-Eintrag).
Zwei Teilnehmer*innen aus meinem Lessing Buchclub an der FU Berlin haben erzählt, wie dieses Buch aktuell ihr Leben beeinflusst hat. Den gesamten Sommer habe das Buch sie begleitet, sogar im Urlaub (ich muss dazu sagen, dass es 800 Seiten dick ist!) und es hätte ihr viel über die Beziehung zu einer Freundin zu denken gegeben, meinte die eine Teilnehmerin. Die Beziehung sei nicht mehr so eng wie sie jahrzehntelang war, aber sie hätten nie darüber gesprochen. Sie werde aufgrund des Buches nun Kontakt zu dieser Freundin aufnehmen… weiterlesen
09. September 2012
„MIR SAN SO UNTERSCHIEDLICH, MIR BEIDE.“
Ich bin zurück aus der Sommerpause… und somit zurück auf dieser Stoffbahn. Immer wieder sind mir in den letzten Wochen mögliche Einträge durch den Kopf gegangen und doch war es auch schön, einmal Pause zu haben.
Aber worüber den ersten Eintrag schreiben? Über interessante Bücher der letzten Wochen? Über den gestrigen Internationalen Tag der Alphabetisierung? Über die Vernissage der neuen Collagen von Herta Müller, die vor zwei Tagen im Literaturhaus stattgefunden hat und zu der ich nicht gehen konnte, weil ich gar nicht in Berlin war?
Stattdessen saß ich im Zug, las in Doris Lessings Goldenem Notizbuch und habe entzückt zwei circa 70jährigen Schweizerinnen zugehört, die sich sehr vertraut über ihre Freundschaft unterhalten haben. weiterlesen
01. Juli 2012
„BUCHLÄDEN SIND TEMPEL FÜR MICH.“
Ich habe sie gefragt, die Buchclub-Teilnehmerin (siehe letzter Blog-Eintrag) und sie hat geantwortet:
„Auch ich wende mich seit Jahren lieber an ’meine’ Buchhandlung, zumal ich dort sehr nett empfangen, beraten, sogar namentlich begrüßt werde. Ich scheue also nicht immer die Wege dorthin. Wie Du aber auch erkannt hast, gibt es doch die eine oder andere zweckmäßigere Überlegung, amazon einzusetzen, z.B. für Buchgeschenke, die sogar dort nett verpackt und mit einer Geburtstagskarte mit dem von mir entworfenen Text versehen werden. Man schlägt ja sogar sinnvolle Ergänzungen vor. Und das ganze erledigt sich in kurzer Zeit. So schwankt man immer zwischen zeitaufwändiger Gewohnheit und modernen, praktikablen und erfreulichen Möglichkeiten.“
Eine Teilnehmerin meines Doris Lessing Buchclubs erzählte am Donnerstag, sie habe Lessings Buch „Mit leiser, persönliche Stimme“ bei Amazon für 3 Euro gekauft. Dieser Essayband – eine wunderbare Ergänzung zu den Romanen der Autorin – ist zur Zeit im Buchhandel vergriffen.
Schon sind wir mitten in einem Thema, das seit längerem die Buchbranche umtreibt: Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Buchhandlungen vor Ort aufgrund der immens großen Konkurrenz durch Amazon und andere Online Bookshops. Aus diesem Grund hat der Ravensburger Buchhändler Michael Riethmüller (RavensBuch) in dieser Woche eine bundesweite Kampagne angekündigt, „um Käufer für die Leistungen stationärer Händler zu sensibilisieren. Wir wollen deutlich machen, welche langfristigen Folgen das Einkaufen im Internet für die Situation in den Städten hat.“ Botschaft und Slogan lautet: „Buy local.“ weiterlesen
16. Juni 2012
SCHMETTERE MAL NE BALLADE!
Heute ist ein besonderer Tag: Bloomsday! Der einzige literarische Feiertag der Welt. Benannt nach dem Protagonisten Leonard Bloom aus James Joyce’s Jahrhundertroman Ulysses, dessen 1000-seitige Handlung ausschließlich an einem einzigen Tag spielt: dem 16. Juni 1904.
In Irland wird dieser Tag natürlich besonders gefeiert, aber auch in Deutschland, speziell in Berlin, gibt es jedes Jahr Veranstaltungen unterschiedlichster Art. Heute beispielsweise im ARD-Hauptstadtstudio, in welchem bereits seit 07:45 Uhr ein Public Listening der neuen 22-stündigen Hörspiel-Ausgabe stattfindet.
Wieso hat Joyce den 16. Juni 1904 gewählt? An diesem Tag führte er seine spätere Frau Nora Barnacle zum ersten Mal zum Abendessen aus. Aus diesem romantischen Anlass entstand innerhalb von 18 Jahren schließlich ein Roman, weiterlesen
10. Juni 2012
MIT LETZTER TINTE
Sie erinnern sich an Günter Grass’ israelkritisches Gedicht, das vor rund zwei Monaten heftige Reaktionen ausgelöst hat. Nun hat er ein weiteres geschrieben, obwohl er „Was gesagt werden muss“ angeblich „mit letzter Tinte“ verfasst hat. Seine nun also in ein neues Tintenfass getauchte Feder hat „Europas Schande“ formuliert, ein Gedicht, das sich in zwölf je zweizeiligen Versen um die Krise Griechenlands dreht und in welchem er Europa vorwirft, dem Land den Giftbecher zu trinken zu geben wie man es einst mit Sokrates getan hat.
Ich frage mich, wer sich für dieses Gedicht interessiert und sich aktiv darum bemüht, es zu lesen – von Literaturbetriebsmenschen einmal abgesehen, die aus professionellen Gründen motiviert sind. weiterlesen
03. Juni 2012
DIE ZUKUNFT DES LESENS UND SCHREIBENS
Am Freitag war ich im Berliner Literaturhaus. Dort haben die Autorin und Journalistin Kathrin Passig (die 2006 den Ingeborg Bachmann Preis gewonnen hat) und Hans Richard Brittnacher (Professor für Neuere Deutsche Literatur an der FU) über die Zukunft des Lesens und Schreibens diskutiert.
Vor allem Passig hat mich fasziniert mit ihren klug-reflektierten und gleichzeitig provokativ-revolutionären Gedanken. Beispielsweise zum Thema Co-Autorenschaft.
Passig geht es um echte Co-Autorenschaft, die weit über das hinausgeht, was bis dato üblich ist. Wie etwa im wissenschaftlichen Kontext, in welchem verschiedene Autor*innen zwar einzelne Kapitel eines Buches verfassen, aber als Verfasser*innen der Kapitel eindeutig zuzuordnen sind und zweitens jede/r für sich alleine schreibt. weiterlesen
26. Mai 2012
„DIE SPRACHE IST EINE WAFFE. HALTET SIE SCHARF.“
Vor zwei Wochen habe ich versprochen, Wolf Schneiders aktuelle Deutsch-Stilkunde in der ZEIT mit Ludwig Reimers Kleiner Stilfibel, dem Klassiker aus dem Jahr 1951, zu vergleichen. Mein Versprechen will ich heute einlösen. Aber ich muss Ihnen gleich sagen: weit bin ich nicht gekommen, denn bereits die jeweiligen einleitenden Worte haben es dermaßen in sich!
Reimers nennt seine Einführung „Ein Brief statt eines Vorworts“ und spricht seine Leser (die Leserinnen sind im Zweifelsfall wohl mitgemeint) bereits im Einstiegssatz direkt an: „Warum haben Sie sich dieses Buch gekauft? Sie hätten dafür ungefähr dreißig Tassen guten Kaffee trinken können.“
Ein paar Zeilen weiter macht er großspurig Werbung für sein Buch („Gründlicher als dieser Lehrgang kann kein Schulunterricht sein.“), weiterlesen
19. Mai 2012
DAS MUSEUM DER UNSCHULD
In meinem letzten Blog-Eintrag ging es ums Loslassen, heute geht es ums Sammeln.
Haben Sie vom Museum der Unschuld gehört, das der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk gerade in Istanbul eröffnet hat? Genau, das ist der Titel eines seiner Bücher. Nun auch der Name seines Museums, das Fundstücke und Artefakte der fiktionalen Liebe zeigt, die Pamuk im gleichnamigen Roman erzählt. Sein Held Kemal ist Sprössling der Oberschicht und verliert seine Geliebte Füsun, eine arme Verwandte. Er findet Trost im Sammeln von Dingen, die sie berührt hat oder die durch Erinnerungen mit ihr verknüpft sind: Schminkutensilien, Taschentücher, Eintritts- und Visitenkarten, Streichholzschachteln, Gläser etc.
Seit 2001 schrieb er am Roman und erzählte ihn um die Dinge herum, weiterlesen
13. Mai 2012
BOOKCROSSER
Vor drei Tagen laufe ich nachts in der Lehrter Straße am A&O Hostel vorbei und stehe plötzlich vor einer graffiti-besprühten Telefonzelle, die Tags zuvor noch nicht dort stand. Eine Menge Bücher sind im Zelleninneren gestapelt – das kann nur eines bedeuten: ein Buchtauschort! Aber davon gibt es unterschiedliche. Als ich lese, dass es sich um Bookcrossing handelt, freue ich mich wirklich: es ist erst das zweite Mal, dass mir ein solcher Ort über den Weg läuft (bzw. ich ihm).
Kennen Sie die BookCrosser? Unter dem Motto „Mitnehmen! Lesen! Freilassen!“ werden weltweit Bücher entweder an betreuten Orten (wie der so genannten BücherboXX hier am Hostel) oder aber irgendwo in der „freien Wildbahn“ ausgesetzt. weiterlesen
06. Mai 2012
BUBBLE TEA
Ich bin begeistert: Auf meinen letzten Blog-Eintrag hin haben sich mehrere Leser*innen mit „poetischen Produkten“ gemeldet, die ihnen aufgefallen sind. So landeten beispielsweise ein „Brandstifter“ und ein „Unschuldsengel“ bei mir: aufgestöbert in einem Kühlschrank.
Und ganz poetisch im klassischen Sinn der „bubble tea“ (chinesischer „Perlen-Milchtee“), den mir eine Klientin zugeblubbert hat und über den sie schreibt:
„Wie kleine, matte Glasmurmeln schlummern die farbigen Perlen – Popping Bobas -, gefüllt mit einer ebenfalls farbigen Flüssigkeit auf der Basis von gesüßtem schwarzen oder grünen Tee am Grund eines Plastikbechers, darüber die Flüssigkeit gleicher Farbe als gesamte Fließmasse. (…) Ihr Zerplatzen beim Draufbeißen stelle ich mir wie die süße Riesenvariante von Kaviarkügelchen vor. weiterlesen
28. April 2012
POETISCHE PRODUKTE
Eigentlich wollte ich heute im Edeka-Center nur einen schnellen Mini-Einkauf machen. Doch dann blieb ich fasziniert vor der Heinz Ketchup Grill-Aktionsfläche stehen, stöberte sicherlich eine halbe Stunde durch all die verschiedenen Saucen – fasziniert von den neu designten Flaschen und der aktuellen Kampagne.
O.k., hier und heute also der Beginn einer neuen Serie: „Poetische Produkte“ werde ich sie nennen und Heinz Ketchup macht den Anfang.
Poetisch sind zunächst mal die Geschmacksrichtungen, die vielsprachige Bezeichnungen tragen wie „Gerösteter Knoblauch Mayo ail frit“ oder „Ein Hauch von Chili Mayo légèrement pimenté“. Ist das nicht wunderbar?
Poetisch (und prosaisch!) vor allem aber die neuen Sprüche auf den klassischen Tomatenketchup-Flaschen: „Wurst coming home“, weiterlesen
22. April 2012
NO AWARD
Vor wenigen Tagen wurde bekannt gegeben, dass der diesjährige Pulitzer-Preis für Fiction nicht verliehen wird. Die Pulitzer-Preise sind die höchsten Medienpreise in den USA. Sie werden in 21 Kategorien ausgeschrieben und sind mit jeweils 10.000 Dollar dotiert.
Was steckt dahinter? Die Jury – bestehend aus Michael Cunningham, dem letztjährigen Gewinner, der Herausgeberin Susan Larson sowie der Literaturkritikerin Maureen Corrigan – gab zunächst keinerlei Gründe an.
In der Endrunde waren drei Kandidat*innen, die wie immer von einem jährlich wechselnden Leser*innen-Komitee ausgewählt wurden. In diesem Jahr waren dies der so genannte Kurzroman „Train Dreams“ des in München geborenen Schriftstellers Denis Johnson (noch nicht ins Deutsche übersetzt), „Swamplandia!“ (ja, weiterlesen
15. April 2012
1 FAN = 1 BUCH
Gezielte Leseförderung hat in Deutschland mittlerweile eine jahrelange Tradition – gut so! Die Frage ist nur immer: wer soll gefördert werden und funktioniert das wirklich? Sie erinnern sich vielleicht an die ersten ungewöhnlichen Aktionen wie Fußballmannschaften, die sich lesefördernd engagieren, um auch die eher leseunfreudigen Jungs zu erreichen. Das war vor rund 15 Jahren direkt spektakulär…
Mittlerweile können Leseförderungsaktionen neue und vor allem auch internationale Dimensionen annehmen. So las ich vorgestern von einer – man könnte sagen – Fair Trade-Idee: Das Kölner Modelabel Armedangels engagiert sich mit einer Social-Media-Aktion vom 10. April bis zum 10. Mai. Auf ihrer Facebookseite kann man sich an „1 Fan = 1 Buch“ weiterlesen
05. April 2012
BORED BY POLYMERE SPEECHES
Vor zwei Tagen hatte ich einen Termin an der Evangelischen Akademie Meissen. Die Akademie zeichnet sich nicht nur durch ein interessantes inhaltliches Programm aus, sondern auch durch ihre attraktive Klosterarchitektur und -atmosphäre.
Als ich gerade im Klosterhof die Sonne genieße, ist es rings um mich herum ganz still. Die Teilnehmer*innen einer Tagung des Leibniz-Instituts für Polymerforschung waren wieder zu ihren Vorträgen verschwunden und so fällt mir ein Mann um die 60 auf, der in professioneller Joggingmontur die Akademie verlässt, um 20 Min. später zurückzukommen und sich mit einer kleinen Flasche Wasser, schwitzend und schwer atmend ebenfalls in die Sonne zu setzen.
Wir kommen ins Gespräch und es stellt sich heraus, weiterlesen
01. April 2012
READ & MEET
Meine Gedanken haben sich direkt überschlagen, als ich folgende Meldung vorgestern im Newsletter des Börsenblatts (des Dt. Buchhandels) gelesen habe: Das Forum Zukunft und der mediacampus frankfurt starten eine neue Initiative, um das Konzept interaktiver Leserunden in der Branche zu etablieren. Die Initiative heißt „Read&Meet“: Lesebegeisterte können sich in einer Online- und einer Offline-Leserunde über einen ausgewählten Titel austauschen und ihn diskutieren. \“Anders als in den USA oder Großbritannien gibt es hierzulande kaum Verlage und Buchhandlungen, die Leserunden für ihr Marketing und zur Kundenbindung nutzen\“, sagt Jasmin Marschall vom mediacampus frankfurt.
Zuerst dachte ich…
… an die Veranstaltungsreihe LiteraturLounge, die ich für Dussmann das Kulturkaufhaus ein ganzes Jahr lang einmal monatlich geleitet habe: eine Diskussionsrunde zu jeweils einer aktuellen deutschen Neuerscheinung. weiterlesen
25. März 2012
FRAUEN STEHEN, MÄNNER SITZEN
Auf meinen Stoffbahneintrag zu den derzeitigen Covermotiv-Favoriten auf dem deutschen Buchmarkt habe ich unterschiedlichste Rückmeldungen bekommen. Von „Wenn mir das Cover nicht gefällt, kaufe ich mir den Roman nicht, außer es gibt einen speziellen Grund.“ (was mich an eine Buchclub-Teilnehmerin erinnert, die das Cover von Herta Müllers Atemschaukel mit einem Schutzumschlag unsichtbar gemacht hat, weil sie es nicht ständig ansehen mochte) bis hin zu Leser*innen, die schreiben, dass sie noch nicht einmal sagen könnten, wie die Cover der Bücher aussehen, die sie gerade lesen.
Ein Sachbuchautor hat gemailt: „Sorry, was die Cover betrifft, da scheine ich wohl blind zu sein. Ich gehe gleich auf den Inhalt. Hab sogar bei meinen eigenen Büchern Schwierigkeiten zu beschreiben, weiterlesen
18. März 2012
MEHR ALS ZWEI, DREI STORIES PRO JAHR SCHAFFT SIE NICHT
Vor vier Tagen habe ich in der autorenbuchhandlung Berlin einen inspirierten „Abend für Alice Munro“ erlebt. Ihre Übersetzerin Heidi Zernig, die Autorin Judith Hermann und die Kulturjournalistin Manuela Reichart haben aus einigen (denn natürlich haben Sie jede Menge!) ihrer Munro-Lieblingsgeschichten gelesen und über ihre persönlichen Verbindungen zu dieser Autorin erzählt.
So gesteht Judith Hermann beispielsweise, dass es durchaus stimmt: wenn man selbst gerade an einer Kurzgeschichte arbeitet und dann liest man Munro und denkt „So wird es nie werden!“ – das sei schon deprimierend, selbst wenn man natürlich kein Munro-Imitat sein wolle, trotzdem…
Und als sie das erzählt, schweift ihr Blick übers Publikum: „Sie alle könnten eine Protagonistin in einer Geschichte von Munro sein.“
Wenn Sie mal kurz die Augen schließen… danke… und nun vor Ihrem inneren Auge im Schnelldurchlauf alle möglichen Taschenbuchausgaben von Romanen an sich vorbeifliegen lassen… so, wie sie beispielsweise in klassisch sortierten Bahnhofsbuchhandlungen auf Stapeln liegen und in Drehsäulen stecken. Novitäten genau so wie Neuauflagen mit neuem Cover. So genannte anspruchsvolle ebenso wie durchschnittliche Literatur.
Welche Cover-Motive sehen Sie da besonders häufig vor sich?
Christiane Ludena hat Ihre Augen offengehalten und zeigt in der ZEIT unter der Überschrift „Titelhelden“ eine Cover-Auswahl mit den drei Motiven, die auf dem deutschen Buchmarkt derzeit offensichtlich favorisiert werden.
Brauchen Sie kleine Tipps? Also: das erste Motiv ist das Gegenteil von vollen Tischen. weiterlesen
04. März 2012
WORD-RAGA
An diesem Wochenende habe ich am Ayurveda-Kongress des Yoga Vidya Zentrums in Bad Meinberg teilgenommen. Pralle ganzheitliche Tage voller faszinierender Vorträge, Diskussionen, Yoga-Praxis etc. Hier möchte ich Ihnen kurz von Sanjay També erzählen, der über ganz pragmatische Möglichkeiten der Selbstheilung durch Klang im Alltag gesprochen hat.
També lernte die heilende Musik bei seinem Vater Dr. Balaji Tambe, den er seit über 20 Jahren bei Konzerttourneen als Percussionist und Chorsänger begleitet. In Europa arbeitet er unter anderem als Radio-Moderator und erklärt die – wie er es nennt – „lyrischen“ Hintergründe orientalischer Musik.
Heute hat er vom Schriftsteller Ilija Trojanow erzählt. Er habe ihn gebeten, für das Münchner Literaturfest 2010, weiterlesen
24. Februar 2012
VERWISCHUNGEN UND VERMALUNGEN
Heute war ich in der Gerhard Richter Ausstellung PANORAMA in der Neuen Nationalgalerie. Unabhängig davon, dass ich mich auf diese Ausstellung schon seit langem freue, war der Besuch auch Teil der Vorbereitung auf mein Gerhard Richter Seminar an der FU im März, in welchem ich mit den Teilnehmer*innen Richters verschiedene künstlerische Positionen darauf hin untersuchen werde, wie sie für das eigene Schreiben fruchtbar gemacht werden können.
Dafür gibt es meiner Ansicht nach eine unglaubliche Vielzahl an Ansatzpunkten (die konkrete Auswahl für fünf Termine wird eine Herausforderung für mich sein) und natürlich will ich Ihnen in diesem Blog heute ein Beispiel dafür geben.
Heute geht die Berlinale 2012 zu Ende. Viele Filme, viele Interviews… Unter anderem ist mir eines mit Andreas Dresen im Gedächtnis. Der Regisseur war mit seinem Film „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“ vertreten. Dieser Film entstand zehn Jahre nach „Herr Wichmann von der CDU“ und begleitet ein Jahr lang den Arbeitsalltag von Henryk Wichmann, 33, Mitglied der CDU und seit 2009 Oppositionsabgeordneter im Brandenburger Landtag.
Im Interview mit Anke Engelke aus ihrem „Berlinale Palästchen“ (einem selbstgebauten Häuschen aus Holz und Glas, vis-à-vis zum Berlinale Palast) erzählt Dresen, dass Wichmann kein einziges Mal von seinem vereinbarten Vorrecht Gebrauch gemacht habe, bestimmte Szenen – beispielsweise weil sie nicht sehr schmeichelhaft waren – zu zensieren. weiterlesen
11. Februar 2012
WAS EINEM AN TAGEN DES MANUSKRIPTBAUS SO ALLES DURCH DEN KOPF GEHEN KANN
Auf meinen vorletzten Blogeintrag zur erstaunlichen Biografie der Krimiautorin Anne Perry habe ich einige Rückmeldungen bekommen. In erster Linie von Leser*innen, die „sehr gern Bücher lese(n), die in der viktorianischen Zeit spielen.“ Von richtigen Perry-Lesephasen weiß ich nun, teilweise mit einem „verschämten“ Gefühl verbunden, weil es sich dabei ja nicht um so genannte ’anspruchsvolle’ Literatur handelt. Niemand kannte Perrys wahre Lebensgeschichte.
Eine ehemalige Teilnehmerin an meinem ROOM-SERVICE (der Langzeitgruppe für literarische Projekte), die als Journalistin und Sachbuchautorin arbeitet, hat gleich – angeregt durch diese „Geschichte, die das Leben schrieb“ – im Internet recherchiert und sich den Dokumentarfilm „Anne Perry – Interiors“ von Dana Linkiewiecz ins Haus bestellt:
Beim Praktizieren der Vipassana Meditation hat mich heute ein Satz besonders angesprochen, den der Meditationslehrer während des angeleiteten Teils formuliert hat. Er sprach von der Aufmerksamkeit, die man der Pause zwischen dem Ein- und dem Ausatmen schenken kann.
Diese Pause kommt mir vor wie ein Raum. Ein Raum, der immer da ist und den man doch nur sehen und betreten kann, wenn man sich seiner bewusst wird. Er ist Atem-Pause und gleichzeitig Teil des Atmens. Ein wertvoller Raum des Dazwischen.
Ich denke an Herta Müller, zu deren Literatur ich in diesen Wochen einen Buchclub leite. Momentan lese ich intensiv ihre Essays und nicht nur in diesen spricht sie ebenfalls immer wieder von dem, weiterlesen
28. Januar 2012
ICH ERTAPPE MICH BEI PSEUDO-ROMANTISCHEN VORSTELLUNGEN
In dieser Woche hat mich berührt – und auch meine Fantasie angeregt – , was ich über die Vergangenheit einer weltbekannten Krimiautorin gehört habe.
Die 1944 mit sechs Jahren aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung von England in ein wärmeres Klima zu einer Pflegefamilie auf die Bahamas geschickt wurde und mit dieser Familie dann nach Neuseeland umzog und fast drei Jahre lang keine Schule besuchen konnte. Deren Vater dann schließlich eine Stelle als Rektor in Neuseeland angenommen hat, damit die Familie wieder zusammen war. Die als Jugendliche über eine längere Zeit eine außerordentlich enge Beziehung zu ihrer Freundin Pauline Parker hatte (die später sagte, ihre Freundschaft sei „obsessiv“ gewesen), mit der sie eigene Welten entwickelte und in diesen lebte, weiterlesen
20. Januar 2012
JEDES KLEID ERZÄHLT EINE GESCHICHTE
Anlässlich der Berliner Fashion-Week, die vor drei Tagen begonnen hat, stolpere ich (gern!) über Porträts von und Interviews mit Modedesigner*innen. Angeregt hat mich unter anderem ein Gespräch mit der Münchner Designerin Gabrielle Greiss, die nach einer fulminanten Karriere mit erst 38 Jahren letzten Herbst ihr eigenes Label gegründet hat. Nur 20 Kleider, „aber jedes erzählt eine kleine Geschichte“ sagt sie.
Kleider, die eine kleine Geschichte erzählen. Ja, man ahnt, was gemeint sein könnte, aber was genau meint Greiss damit? „Ein Kleid soll so sein, wie wenn man nachts im Nachthemd in den Garten läuft und sich wunderschön findet.“
Kein Wunder, dass ihre Mode als „eigensinnig, sperrig und poetisch“ bezeichnet wird. weiterlesen
15. Januar 2012
HINTER MEINEN AUGEN STEHEN WASSER
In dieser Woche hat mein aktueller Buchclub an der FU begonnen. Dieses Mal dreht sich alles um die Literatur der Nobelpreisträgerin Herta Müller und so lese ich derzeit unter anderem wieder ihr unglaublich faszinierendes Werk Die Atemschaukel. Erschreckend und faszinierend, prosaisch und lyrisch gleichzeitig.
Die Erfahrungen der Zwangsarbeiter*innen: all das, was diese Menschen auch nach so langer Zeit in ihrem Herzen tragen müssen. All dem gibt Herta Müller eine Sprache, die so starkt sind, dass sie in meinen Alltag hineinwirken.
Und so schaukelt mein Atem in diesen Tagen auch in Verbindung zu all diesen Geschichten und Bildern, sehe ich in der Kälte meine Atemluft mit anderem Blick… weiterlesen
08. Januar 2012
DER MENSCH ALS SOMATISCHE KREATUR
In meinem ersten Blogeintrag in diesem Jahr möchte ich Ihnen vor allem erst einmal von Herzen ein wirklich gutes, positives Neues Jahr wünschen. Ein Jahr, in welchem Sie mit Energie und Freude all das verwirklichen werden, was Ihnen wichtig ist!
Aber was ist, wenn „all das“ viel zu viel ist, um in einem einzigen Jahr realisiert werden zu können? Wenn man dafür drei Leben gleichzeitig leben oder zumindest auf extreme Weise multitasking-begabt sein müsste?
Wären Sie das gern? Dann ist vermutlich Harry Kahne Ihr Vorbild, von dem ich heute zum ersten Mal gehört habe und zwar im Kontext der Ambidextrous Performance (2006) des Künstlers Lars Siltberg, weiterlesen
2011
23. Dezember 2011
461 MILLIONEN GESPROCHENE WÖRTER PRO LEBEN
Im Fernsehen habe ich in dieser Woche eine Sendung gesehen, in der zu allen Aspekten unseres bundesrepublikanischen Lebens die dazu gehörige Statistik geliefert wurde. So weiß ich jetzt, dass wir Deutsche im Laufe unseres Lebens durchschnittlich 461 Millionen Wörter sprechen, macht pro Tag durchschnittlich 16.000.
Kommt Ihnen das viel oder im Gegenteil eher wenig? O.k., das ist der Durchschnitt. Auf jeden schweigsamen Zeitgenossen kommt also einer, der besonders gern redet. Und das Schweigen in den vier Trappistenklöstern Deutschlands wird sicherlich mehr als deutlich ausgeglichen durch die vielen Rhetorikstudent*innen an Universitäten wie beispielsweise der Uni Tübingen, die jedes Jahr eine Rede zur „Rede des Jahres“ auszeichnet.
Dieses Jahr erhielt Jean Zieglers „Aufstand des Gewissens“ diese Auszeichnung. weiterlesen
18. Dezember 2011
DAS ERSTE PARFUM, DAS NACH BUCH RIECHT
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung lese ich heute einen sehr interessanten Artikel über den Parfümeur Geza Schön, der den Geruch von Büchern nachgebildet hat.
Ausgangspunkt war der Film „How to make a book with Steidl“ von 2010. Ein Film über den bekannten Verleger Gerhard Steidl, in welchem der Fotograf Robert Frank sagt, dieser Geruch sei „Steidls Parfüm“. Und so tat sich Steidl mit Schön zusammen, mit dem Ziel, ein Parfüm zu kreieren, dessen Duft dem Geruch frisch gedruckter Bücher entspricht. Sogar Karl Lagerfeld sogar mitmachen, ist dann aber abgesprungen.
Aber wie riecht ein Buch, wie riecht Papier? „Papier riecht wie Papier. Jeder wird dazu etwas Anderes assoziieren.“ sagt Schön. weiterlesen
11. Dezember 2011
DER AUDI 1 KANN LESEN, WAS SIE SCHREIBEN
Beim gelangweilten Blättern in einer alten Zeitschrift, die in einer Arztpraxis auslag, bleibe ich diese Woche an einer doppelseitigen Autowerbung hängen: ein übergroßer grafisch stilisierter Griffel ist da zu sehen, der sich von oben über ein Auto legt. Es handelt sich um den Audi A1 projekt quattro.
Eine Schreibfeder in einer Autowerbung?
Da steht: „Der Audi A1 kann lesen, was Sie schreiben.“ Wow! Darüber muss ich natürlich mehr erfahren, als in der Printwerbung steht, also lese ich zuhause auf der Website von Audi weiter und lerne, dass die Rede ist von einem mit Bluetooth-Technologie ausgestatteten Touchpad, und dass dieses System nicht nur – Achtung: festhalten! – Handschriften erkennen kann, weiterlesen
04. Dezember 2011
DAS VERGANGENE IST NICHT TOT. ES IST NICHT EINMAL VERGANGEN.
Vor zwei Tagen ist Christa Wolf gestorben. Das macht mich traurig.
Immer wieder denke ich an sie und auch an die Berührungspunkte, die ich mit ihr und ihrer Literatur hatte. Von der ersten „Begegnung“ in Form der Schullektüre „Der geteilte Himmel“… über Diskussionen zu Kassandra… über Bücher, die ich als Buchhändlerin von ihr verkauft und gelesen habe… hin zu ihrer Anwesenheit an meiner Universität in Hildesheim, an der sie – nicht unumstritten – die Ehrendoktorwürde erhalten hat… Jahre später meine Veranstaltung LiteraturLounge im Kulturkaufhaus Dussmann, wo ich ihre damalige Neuerscheinung „Mit anderem Blick“ mit Publikum (das ebenfalls sehr zwiegespalten war) diskutiert habe… und immer wieder auch ihr Buch „Ein Tag im Jahr“, weiterlesen
27. November 2011
BLEISTIFTGESCHICHTEN
In der Sendung Literaturclub auf 3sat war heute der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler zu Gast. Moderatorin Iris Radisch befragte ihn zu verschiedenen Aspekten seines neuen Erzählungsbandes ’Der Stein’, der auch so genannte ’Bleistiftgeschichten’ enthält.
Hohler erzählt, dass er Bleistiften „schwer widerstehen“ könne, wenn er irgendwo welche findet. „Denn vielleicht enthält gerade dieser Bleistift eine Geschichte, die auf mich gewartet hat.“ Das wusste offensichtlich auch sein Neffe, der ihm einmal einen Bleistift geschenkt und gesagt hat, dass darin der dritte Teil von Tschipo (einer seiner Kinderromane, von dem es zu fraglichem Zeitpunkt bereits zwei Teile gab) versteckt sei.
Er habe diesen Schreibauftrag angenommen und tatsächlich die gesamten 14 Kapitel von „Tschipo in der Steinzeit“ mit diesem Bleistift geschrieben. weiterlesen
19. November 2011
„GENAU SO WIE WENN ICH EIN BUCH LESE.“
Verrückt, aber wahr: Ausgerechnet in dieser Woche – nachdem ich in meinem letztem Blogeintrag über das Unverhältnis männlicher und weiblicher Lustmorde in der Literatur geschrieben habe, erhalte ich den aktuellen newsletter des transcript-Verlags, in welchem u.a. folgende Neuerscheinung beworben wird: Irina Gradinari – Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa.
Dazu steht Folgendes:
„Obwohl er in Kriminalpsychiatrie und Kriminologie als analytische Kategorie längst diskreditiert ist, wird der Lustmord in der Literatur am Leben gehalten. Anhand deutschsprachiger zeitgenössischer Prosawerke (u.a. E. Jelinek, T. Hettche, T. Dorn, M. Kleeberg, P. Süskind) zeigt Irina Gradinari, dass das prekäre Thema nicht nur ein attraktives Motiv ist, sondern auch eine narrative Funktion im Text erfüllt – eine konstitutive Wirkung auf Genre und Gender. weiterlesen
13. November 2011
ZORNIGE ALTE FRAUEN
In meinem Blogeintrag vom 30. Oktober stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn eine Autorin sich den Namen „alte Frau vom Schreiben besessen“ geben würde – inspiriert vom japanischen Künstler Hokusai.
Eine Blog-Leserin, die ebenfalls schreibt, lässt mich an ihren Gedanken teilhaben und die möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Sie schreibt:
„Eine alte Frau vom Schreiben besessen? Sie zu sein, fände ich wunderbar. Als Name für eine Autorin? Das würde ich keiner heutzutage empfehlen. Ich habe das Gefühl, Bücher von einem Autor mit dem Namen Alter Mann vom Schreiben besessen würden Leser kaufen, aber von einer alten Frau? Dieser Begriff hat doch immer noch einen negativen Beigeschmack. weiterlesen
4. November 2011
VON SINNATTRAKTOREN, SINNPAKETEN UND SINNSTIFTERN
Heute vor einer Woche habe ich in Kassel an der Tagung „Geschichte/n zwischen Erfahrung und Erzählung. Von der Kunst, über das Leben zu erzählen“ des Fachverbands für Biografiearbeit teilgenommen. Besonders anregend war für mich der Vortrag von Prof. Dr. Arist von Schlippe zum Thema „Im Wissen um die alten Geschichten neue Geschichten erzählen.“
„Was nicht narrativ strukturiert wird, geht dem Gedächtnis verloren.“ (Jerome Bruner)
Dies bedeutet unter anderem, dass wir zu den Geschichten „werden“, die wir erzählt bekommen und die wir selbst erzählen. Und diese Geschichten haben manchmal die Eigenart, im Grunde aus „Nichts“ zu bestehen und gleichzeitig „hart wie Beton“ zu sein.
Auf meinem Rückweg nach Berlin im ICE-Großraumwagen lausche ich dem Gespräch einer Familie, weiterlesen
30. Oktober 2011
FRAU, VOM SCHREIBEN BESESSEN
In dieser Woche hat eine Ausstellung stark in mir nachgewirkt: Die Hokusai-Retrospektive im Martin Gropius Bau. Unabhängig davon, dass mich japanische Kultur insgesamt stark beeindruckt, war ich auf besondere Weise fasziniert davon Hokusais Drucke im Original zu sehen. Außerdem gab es viele literarische Bezüge: Die Namen, die er vielen seiner Bilder gab, muten an wie kleine Geschichten. Für die so genannten kibyoshi, die Populärromane, fertigte er über 1000 Illustrationen an. Er illustrierte die berühmten Scherzgedichte (kyoka) und machte den Begriff Manga bekannt, wobei seine Manga keine zusammenhängenden Geschichten erzählen, sondern Momentaufnahmen der japanischen Gesellschaft darstellen.
Besonders beeindruckt hat mich die Tatsache, dass Hokusai sich im Laufe seiner rund 50jährigen Laufbahn als Künstler mehr als 30 verschiedene Namen gegeben hat. weiterlesen
22. Oktober 2011
KRIMIAUTOREN PRÄSENTIEREN STRICKMODE
Anfang der Woche ist mir – ich saß gerade im Bus – ein Werbeplakat an einer Haltestelle aufgefallen: „Die spannendsten Krimiautoren und ihre Fans präsentieren die Stricktrends für den Herbst.“ Das hat mich so verblüfft, dass ich meinen mir unbekannten Sitznachbarn (einen jungen Mann) darauf angesprochen habe. Ob er glaube, dass so eine Werbung funktioniere? Er sah zuerst mich, dann das Plakat an und meinte „Keine Ahnung, ich lese keine Krimis.“
Offensichtlich gehört er also nicht zur typischen Zielgruppe von Peek & Cloppenburg, um deren Werbekampagne „Friends for Fashion“ es sich handelt. Zumindest nicht, was Strickwaren angeht. Verständlich…
Am Mittwoch blätterte ich durch den sechs-seitigen Werbeflyer (der zur Zeit vielen Zeitschriften beigeheftet ist) und konnte nachlesen, weiterlesen
16. Oktober 2011
IST JOANNE K. ROWLING GENIAL?
Die aktuelle ZEIT hat – anlässlich des Todes von Steve Jobs – über Genies geschrieben und herausgefunden, dass angeblich sieben Zutaten nötig sind, „um Weltverbesserer zu werden“. Schon hier runzle ich die Stirn: warum werden Genies automatisch mit Weltverbesserung in Verbindung gebracht?
Ärgerlich und typisch zugleich, dass sich unter den zehn ausgewählten Genies „die unser Leben verändert haben“ nur zwei Frauen befinden. Noch ärgerlicher und typischer, dass diese zwei Frauen aus den Bereichen Mode und Literatur stammen. Ja, das sind die Bereiche, in denen sich weibliches Genie zeigen darf, so scheint die Botschaft zu lauten. Für mich außerdem befremdlich, dass im Bereich Mode Miuccia Prada ausgewählt wurde („genial verschränkte die Mäzenin in ihren Kollektionen Luxus mit Kunst: aha!) anstatt beispielsweise Vivienne Westwood, weiterlesen
09. Oktober 2011
WER REIEIEIEITET SO ASCHANELL… DURCH NACHT UND FIND?
Gut, der Erlkönig reitet immer noch: Am Donnerstag wurde der diesjährige Nobelpreisträger für Literatur bekannt gegeben. Es handelt sich um den schwedischen Lyriker Tomas Tranströmer, den die Akademie als einen der „größten Poeten unserer Zeit\“ ansieht und den sie unter anderem dafür ausgezeichnet, weil er „uns in komprimierten, erhellenden Bildern neue Wege zum Wirklichen weist.“
Ich finde es wunderbar, dass endlich einmal wieder ein Lyriker diesen wichtigen Preis bekommen hat, da die moderne Lyrik meiner Ansicht nach oftmals weniger wert geschätzt wird als die moderne Belletristik. Zumindest wird sie bei weitem nicht so stark beachtet. Oder wie Raoul Schrott sagt: Die Auszeichnung sei „ein Zeichen dafür, dass die Poesie als Gattung immer noch Zentrales zu sagen hat.“
Natürlich wurde auch Marcel Reich-Ranicki alias André Ehrl-König (siehe letzter blog-Eintrag) befragt, weiterlesen
01. Oktober 2011
UND ER REITET IMMER NOCH
Der Erlkönig scheint mich zu verfolgen (siehe letzter Blog-Eintrag): vor wenigen Tagen laufe ich durch die Nesenbachstraße in Stuttgart und stehe plötzlich vor einem gay and lesbian bookshop namens Erlkönig. (Aber wieso dieser Name? Der Slogan lautet „Sagenhaft gute Unterhaltung“, aber der Erlkönig ist eine Ballade und keine Sage – oder sollte man das nicht so eng sehen? Und unter dem Logo – halb Stuttgarter Pferdle, halb Zentaur – ist zu lesen: „Der Erlkönig war ja bekanntlich ebenfalls zu Pferd unterwegs“. Hm, ein bisschen weit hergeholt, oder? Aber ein schöner Name ist es allemal!)
Dann sendet mir ein Blog-Leser eine mms: er habe gerade in einem Buchtausch-Café einen Roman ergattert, weiterlesen
23. September 2011
EIN AUTO NAMENS ERLKÖNIG
O.k.: Für diese Woche habe ich Ihnen einen „doppelten Erlkönig“ versprochen. Also Folgendes: Vor kurzem habe ich den beeindruckenden Spätwestern „True Grit“ von den Coen Brüdern gesehen.
(Diese Verfilmung des gleichnamige Roman von Charles Portis, der – Übrigens Nr. 1 – von vielen Expert*innen als einer der besten amerikanischen Schriftsteller angesehen wird, obwohl ihn praktisch Niemand kennt, ist – Übrigens Nr. 2 – eine Neuinterpretation des Western-Klassikers „Der Marshall“ mit John Wayne).
Jeff Bridges spielt den starrsinnigen, versoffen U.S. Marshall Rooster Cogburn, der von der 14jährigen Mattie angeheuert wird, den Mörder ihres Vaters zu finden. Aus einer problematischen „Geschäftsbeziehung“ wird nach und nach eine Art Vater & weiterlesen
16. September 2011
SAUKLAUE
Auf meinen letzten Blog-Eintrag habe ich einige Reaktionen erhalten. Vielen Dank! Zwei davon möchte ich Ihnen nicht vorenthalten und so habe ich beschlossen, Ihnen von meinen Erlkönig-Erlebnissen, die ich in den letzten Tagen hatte, erst nächste Woche zu berichten.
Zum Thema ’Handschrift in Einzelbuchstaben oder zusammenhängenden Buchstaben’ hier also Auszüge aus zwei Mails:
* „Bei mir selbst hat die verbundene Schrift nicht funktioniert – ich bekam schon sehr früh eine Sauklaue. Aber mir fiel dann gleich meine 2. Heimat in Asien ein. In China gibt’s ja gar keine Buchstaben, die man verbinden könnte, nur schön komplizierte Striche, die sehr genau zu einem Zeichen zu verbinden sind. weiterlesen
11. September 2011
IST BUCHSTABENVERBINDEN EIN ZEICHEN FÜR HARMONIESUCHT?
In dieser Woche, die stark geprägt ist durch den 10. Jahrestag der Ereignisse am 11. September 2001, erzählt mir ein Grundschullehrer von einer aktuellen Regellockerung in Sachen Schreiben: ab sofort müssen Kinder, wenn sie schreiben lernen, die Buchstaben der Wörter nicht mehr miteinander verbinden. Die Buchstaben dürfen also separat nebeneinander stehen.
Ich erinnere mich noch an die teils sehr mühseligen Versuche, das auslaufende „Schwänzchen“ eines Buchstabens um Himmels Willen irgendwie mit dem nächsten Buchstaben verbinden zu können. Und heute noch fällt mir bei Handgeschriebenem immer auf, ob Jemand die Buchstaben verbindet oder separiert. Wie kommt es, dass wir als Erwachsene diesbezüglich so unterschiedlich schreiben? Und lassen sich irgendwelche charakterlichen Rückschlüsse ziehen nach dem Motto „Zeige mir, weiterlesen
4. September 2011
READ & FEEL
Am 24. August ist Apple-Gründer Steve Jobbs aus gesundheitlichen Gründen endgültig als Firmenchef zurückgetreten. Einer der jetzt „wichtigsten vier Männer“ bei Apple ist Jonathan Ive, seit Jahren zuständig für den Bereich „look & feel“, wesentlicher Hauptfaktor für den Erfolg von Apple. Mich lässt seither dieser Begriff nicht mehr los und ich spiele in Gedanken immer wieder durch, ob und wie sich diese sichtbaren Design-Aspekte auf die unsichtbaren Design-Aspekte von Romanen übertragen lassen.
Das „look and feel“ entspräche dann einem „read & feel“. Die Anwender*innen wären die Leser*innen. Der äußeren Farbwahl würden beispielsweise die sprachlichen Klangfarben entsprechen. Im Übrigen auch hier eine Entsprechung: der Erfolgsfaktor vieler Romane besteht ja darin, weiterlesen
14. August 2011
EIN ECHTES AB-RAT ERLEBNIS
In dieser Woche war ich in meiner Stuttgarter Lieblingsbuchhandlung: Rita Limacher. Diese Buchhandlung (genannt nach ihrer Schweizer Besitzerin) konzentriert sich auf Kunst und Architektur und befindet sich direkt hinter dem Kunstmuseum Stuttgart am Kleinen Schlossplatz. Ein wahres El Dorado für besondere, ästhetisch gut gemachte und sehr anregende Bücher.
An der Kasse lag dieses Mal unter anderem der Roman „Die Frauen“ von T.C.Boyle. Ich schätze Boyle als Autor, kannte dieses Buch aber noch nicht und frage Frau Limacher, wieso gerade dieser Roman an der Kasse liegt, obwohl in ihrer Buchhandlung keine Romane verkauft werden. Sie kommt sofort ins Schwärmen. Ein tolles Buch sei das, ein ganz wichtiges, das sich um die faszinierende Figur des amerikanischen Stararchitekten Frank Lloyd Wright drehe. weiterlesen
7. August 2011
BUCH AUF REISEN
Ist Ihnen in der freien Wildbahn schon einmal ein Buch zugelaufen? Eines, das ausgesetzt worden ist – allerdings nicht aus Lieblosigkeit, im Gegenteil! Einer Klientin ist das gerade passiert und sie hat mir ihre Freude beschrieben, als sie während einer langen Autofahrt bei einem Raststättenzwischenstopp ein einsames Buch auf einer Parkbank gefunden hat. Natürlich hat sie es aufgeschlagen… und Folgendes gelesen:
„BUCH AUF REISEN. Dieses Buch wurde weder verloren noch vergessen. Es wurde absichtlich freigelassen, damit es gefunden werden kann. Das Buch ist bei BookCrossing registriert, einem weltweiten Forum zum Lesen, Tauschen und Freilassen von Büchern. Nach dem Lesen einfach an Freunde weitergeben oder wieder freilassen.“
Derzeit gibt es über 900.000 BookCrosser und rund 8 Mio Bücher, weiterlesen
31. Juli 2011
BESCHÄMT
Vor kurzem hat mein Computer seinen Geist aufgegeben. Dabei ist eine Geschichte verloren gegangen, an der ich gerade schreibe. Rund 20 Seiten waren einfach weg und ich hatte das Gefühl, dass ich nie wieder dieselben stimmigen Worte und Formulierungen würde finden können. Falls Sie selbst schreiben, ist Ihnen dieses sehr frustrierende Gefühl vertraut.
Vor zwei Tagen war der chinesische Autor Liao Yiwu, der seit drei Wochen in Berlin lebt, zu Gast im ZDF Morgenmagazin. In China musste er seinem weltweiten Publikationsverbot zustimmen. Nun wurde sein Manuskript, das er außer Landes schmuggeln konnte, in Deutschland unter dem Titel „Für ein Lied und hundert Lieder“ publiziert. Dieser „Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen“ wird bereits mit Solschenizyns Archipel Gulak verglichen. weiterlesen
22. Juli 2011
HOUSEWIFE FINDS TIME TO WRITE SHORT STORIES
Zu meinen Stoffbahneintrag vom 10. Juli habe ich mehrere Reaktionen erhalten. Interessant beispielsweise, was mir eine Webdesignerin geschrieben hat, die sich just ein paar Tage zuvor einen Erzählband von Alice Munro bestellt hatte, und in bezug auf das Roman/Kurzgeschichten-Thema schreibt: „ Vielleicht hatte es zunächst ganz praktische Gründe, dass sie Erzählungen geschrieben hat, einfach weil nur begrenzt Zeit für das Schreiben vorhanden war und so hat sie eine verdichtete Form gefunden.“
Diese pragmatische Erklärung deckt sich mit der Überschrift des ersten Porträts, das 1961 über Munro in der Vancouver Sun erschienen ist: Housewife finds time to write short stories.
Und tatsächlich hat Munro in späteren Jahren bemerkt, weiterlesen
17. Juli 2011
LITERARISCHE FOLLOWER
Letzten Sonntag wurde der Österreicherin Maja Haderlap der Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 für ihren autobiografisch grundierten Romanauszug „Im Kessel“ verliehen, eine dichte Evokation des Leides der slowenischen Minderheit in Kärnten und der großen Opfer ihres Widerstandskampfes gegen die Deutschen. Über diesen Wettbewerb habe ich mich übers Internet und in Zeitungen informiert.
Drei Tage später verfolge ich im Rahmen der Frauenfußball WM das Spiel Japan gegen Frankreich auf einem I-Phone, und zwar über den Live-Ticker der Kicker Website, da ich an diesem Abend keinen Zugang zu einem Fernsehgerät habe.
Ich frage mich, ob es in den nächsten Jahren ebenso selbstverständlich sein wird, den Bachmann-Wettbewerb und andere hochkarätige Literaturwettbewerbe – weiterlesen
10. Juli 2011
EINE ART KLEINE SCHWESTER
Heute wird die Short Story -Meisterin Alice Munro 80 Jahre alt. Es gibt wohl kaum eine andere Autorin, die sich seit Jahrzehnten auf die literarische Form der Kurzgeschichte konzentriert und diese auf solch hohem Niveau hält, dass sie seit Jahren unter anderem für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. Aber einen Nobelpreis für Kurzgeschichten?
Was macht diese Geschichten so besonders? Zum Beispiel, dass sie auf den ersten Leseblick harmlos daherzukommen scheinen und – je genauer man liest – „die Wucht von Tragödien“ haben und „Romane füllen könnten“, wie die Berliner Zeitung passenderweise schreibt. Aber warum schreibt sie dann keine Romane?
Das fragen sich vor allem Leser*innen, die die weit verbreitete Meinung teilen, weiterlesen
01. Juli 2011
ADOLESZENTE SELBSTFINDUNGSLYRIK
In dieser Woche habe ich mehrmals Plakatwerbung gesehen für das Deutschpoeten Open Air Festival im September im Olympiastadion. Acts werden dort auftreten, deren „Lieder (!) sich vor allem durch viel Poesie auszeichnen.“ Unter anderem Max Prosa. Noch nie gehört, macht mich aber natürlich neugierig.
Auf seiner Website wendet er sich allerdings dezidiert gegen alles Poetische, wie es scheint: „Max‘ kantige Texte haben nichts zu tun mit adoleszenter Selbstfindungslyrik und peinlicher Pubertätspoesie. Stattdessen entwirft Max Prosa surreale Szenarien voller Emotionen, schildert kleine Geschichten über große Themen und wirft zwischen den Zeilen neugierige Blicke in eine Welt, die er sich mit seinen wohlgewählten Worten selbst entwirft. Nie arrogant und verkopft. weiterlesen
26. Juni 2011
DAS GEFÄSS PRIVATER LEKTÜREVORLIEBEN
„Ich bezeichne mich mal als gläubigen Menschen und gleichzeitig tauche ich leidenschaftlich gern in literarische Welten ein,“ mailte mir in dieser Woche eine Klientin als Antwort auf meinen letzten Blogeintrag. „Sicherlich gefestigt und geborgen in eben dieser christlichen Weltanschauung, die vielleicht für eine gewisse ’Vorauswahl’ sorgt, – aber jeder andere Lesebegeisterte setzt auch irgendeinen Maßstab an, wenn er sich seinen Lesestoff auswählt.“
Diese Vorstellung des Gefestigt- und Geborgenseins in einer Weltanschauung als Vorauswahl für die eigene Lektüre geht mir immer wieder durch den Kopf. Auch als ich mit einer Freundin vor Young-Jae Lees Installation „Behältnisse“ im Museum für Asiatische Kunst in Dahlem stehe: 313 Gefäße, feinsinnige Zylindervasen, bis zu einem halben Meter hoch. weiterlesen
18. Juni 2011
KOKETTERIE DES AUTORS
Am Mittwoch hatte das Theaterstück MONSTER Premiere in Bremen. Ein Schauspielprojekt von Junge Akteure zum Thema jugendliche Gewalt. Ich habe diese Produktion als Autorin begleitet. Entsprechend beschäftigen mich seit Monaten die vielfältigen Aspekte von Gewalt, selbst erlebter, selbst ausgeübter sowie medialer Gewalt. Ganz aktuell fühle ich mich mit Gerhard Roth (siehe Eintrag vom 12. Juni) verbunden, der die Möglichkeit zur Bestialität schlicht als integralen Bestandteil der Humanität betrachtet. Dies ist heutzutage keine provokante These mehr, aber deshalb natürlich nicht weniger beunruhigend.
Und ich frage mich, ob sich beispielsweise Max Frisch, dessen autobiografische Erzählung Montauk ich gerade in meinem Buchclub diskutiere, wohl tatsächlich als Monster gefühlt hat, wenn er sein Alter Ego im Buch als solches bezeichnet, weiterlesen
12. Juni 2011, Pfingstsonntag
DIE HEILIGE MESSE DES LESENS
Ein Artikel über Gerhard Roths Neuerscheinung Orkus titelt: „Die heilige Messe des Lesens.“ Passend zu den vielen Pfingstmessen und angelehnt an Roths Leseleidenschaft, über die er selbst schreibt: „Ich erlebte (…) die Kommunion in der heiligen Messe des Lesens.“ Seit ich diesen Satz gelesen habe, denke ich darüber nach, ob es vielleicht tatsächlich einen Zusammenhang gibt: je gläubiger ein Mensch ist, desto weniger ist er von Belletristik fasziniert. Und je größer die literarische Faszination, umso höher die Wahrscheinlichkeit einer atheistischen Lebenshaltung. Ich spreche hier nicht von Urlaubslektüren, Genreliteratur etc., sondern von existentieller Belletristik.
Mir erscheint das durchaus plausibel, und zwar aus vielen Gründen, die den Rahmen dieses blogs natürlich sprengen würden. weiterlesen
29. Mai 2011
HÖLLENKUNDEN
In dieser Woche hat mir eine ehemalige Teilnehmerin des ROOM SERVICE, meine Langzeit-Schreibgruppe, einen Link zum Piper Verlag geschickt: ein Aufruf an alle Buchhändler*innen, ihre „geheimen Aufzeichnungen“ über Erfahrungen mit so genannten „Höllenkunden“ zwecks Veröffentlichung an den Verlag zu schicken.
Was Höllenkunden sind, lässt sich leicht ausmalen und als ehemalige Buchhändlerin fallen mir da sofort ein paar besondere Exemplare ein, auch wenn seit der Begegnung mit diesen rund 25 Jahre vergangen sind.
Gestern habe ich mit einer befreundeten Berliner Buchhändlerin über diesen Aufruf gesprochen. Sie sagte, sie habe davon gehört, aber sie wolle sich bewusst nicht daran beteiligen – obwohl es an entsprechendem „Material“ wahrlich keinen Mangel gäbe – sondern sich lieber auf die schönen Begegnungen konzentrieren. weiterlesen
22. Mai 2011
GEDICHTE SIND WIE TAXIS
Eine Kollegin hat mir ein Gedicht des Lyrikers Klaus F. Schneider an mich weitergeleitet, in welchem folgende drei Zeilen vorkommen (ja: kleinschreibung und kommasetzung original):
texte sind wie taxis.
texte sind wie taxis die dich unterwegs aufgabeln
oder an dir vorbeirauschen.
Was halten Sie davon? Gedichte als Taxis? Eigentlich ein schöner Gedanke. Taxis kann man sich heranwinken (ohne zu wissen, in welches Gedicht man einsteigen wird). Man kann sie telefonisch ordern und beispielsweise ein „Hundetaxi“ oder „Lastentaxi“ bestellen. Dann bekommt man – im ersten Fall – vielleicht ein leichtfüßiges Gedicht von Robert Gernhardt oder – im zweiten Fall – ein gewichtig gereimtes klassisches. weiterlesen
15. Mai 2011
ES IST NICHT DIE ZEIT FÜR ICH-GESCHICHTEN
Heute ist Max Frischs 100. Geburtstag. Auf allen Kanälen Beiträge, Kommentare, Anekdoten. Immer wieder die Frage: wird Frischs Werk, um das es in den letzten Jahren Still(er) war – von Schullektüren abgesehen – wieder lebendiger werden? Ist Frisch noch aktuell?
Ganz aktuell danke ich allen, die mir in der letzten Woche Gedanken zu Frisch gemailt haben. Aus einer Mail (vielen Dank, J.!) möchte ich heute zitieren – sie scheint mir repräsentativ für so manche Re-Lektüre seiner Romane: „Max Frisch hätte ich früher als meinen Lieblingsautoren bezeichnet. Vor einiger Zeit hatte ich gedacht, ich gucke ´mal, wie er heute so auf mich wirkt und war ganz erstaunt, dass ich \“Stiller“ relativ schnell beiseite gelegt habe und dachte, weiterlesen
8. Mai 2011
GESCHICHTE IN GROSSBUCHSTABEN
Es geht nicht anders: auch diese Woche steht mein Blogeintrag im Zusammenhang mit einer Zugfahrt. Dieses Mal nach Hamburg. Auf dem Weg dorthin lese ich in einer Biografie über Max Frisch, der mich in den nächsten Wochen stark begleiten wird: an der FU leite ich einen Buchclub sowie ein Tagebuch-Seminar zu Frisch. Seine Ansichten über Identität und über autobiografisches Schreiben finde ich seit langem interessant. So hat er 1960 einen kurzen Text unter dem Titel ’Unsere Gier nach Geschichten’ veröffentlicht. Hier schreibt er:
„Jeder Mensch, nicht nur der Dichter, erfindet seine Geschichten, nur daß er sie, im Gegensatz zum Dichter, für sein Leben hält – anders bekommen wir unsere Erlebnismuster, weiterlesen
1. Mai 2011
SCHNEIDER FÜNF
Gestern im ICE zwischen Bremen und Hannover lese ich in der WELT ein kurzes Statement über die Festnahme des chinesischen Künstlers und Regimekritikers Ai Weiwei, von dem niemand weiß, wo er sich befindet. Unter anderem in Deutschland erfährt er viel Solidarität, auch anlässlich der Ausstellung „Kunst der Aufklärung“, die in Peking, München, Dresden und Berlin stattfindet.
Ich sehe aus dem Fenster in die dunkel werdende Landschaft und höre plötzlich ein paar Sitze weiter eine Stimme, die sagt „Schneider Fünf“. Natürlich horcht man immer auf, wenn jemand den eigenen Namen sagt, auch wenn er in einem ganz anderen Zusammenhang steht. Im Folgenden höre ich noch Sätze wie „Welche Chance hast du denn noch, weiterlesen
21. April 2011
FIGUREN SIND WIE VAMPIRE
Vermutlich ist Ihnen bekannt, dass Vampir-Romane nach wie vor sehr populär sind.
Und jetzt folgendes: vor ein paar Tagen habe ich im Focus der letzten Woche ein Interview mit Michel Houellebecq gelesen, der gerade seinen neuen Roman Karte und Gebiet publiziert hat. Der Interviewer fragt ihn: „Ist das Ihr Hauptproblem beim Schreiben, die Figuren im Zaum zu halten?“ Und Houellebecq antwortet: „Es ist so, als ob du Schmarotzer nähren würdest. Kreaturen, die du zwar in die Welt setzt. Die du aber irgendwann beseitigen musst, wenn sie Oberhand gewinnen.“
Und dann: „Figuren sind wie Vampire, wie wollen unbedingt leben.“
Wenn Sie selbst schreiben, kennen Sie dieses Phänomen vermutlich. weiterlesen
15. April 2011
FORMSTRENGE ALS ANARCHIE
Seit wenigen Tagen bin ich wieder zurück in Deutschland. Ich war gespannt, welche literarische Nachricht mir als erstes über den Weg flattert. Es war die Nachricht, dass Elke Erb den Preis der Literaturhäuser 2011 erhalten hat. Dieser Preis wird jährlich einem Schriftsteller oder einer Schriftstellerin verliehen, der/die sich „im besonderen Maße um das Gelingen von Literaturveranstaltungen verdient gemacht hat.“ Das ist – gerade bei einer Lyrikerin – nicht selbstverständlich. In der Begründung der Jury heißt es unter anderem: „Elke Erbs Werk ist ein lebenslanges Tagebuch, in dem das Artifiziellste sich als das Alltäglichste offenbart, Formstrenge als Anarchie, Derbheit als Feingefühl.“
Mich interessieren Schriftsteller*innen, die in ihrer Kunst scheinbar unvereinbare Extreme zu verbinden wissen. weiterlesen
12. März 2011
GANZ UNVERHOFFT
Als ich in dieser Woche am Rathaus Tiergarten mein Rad abgestellt habe, sah ich auf dem Plattenboden vor der großen Glasvitrine auf dem Vorplatz große weiße sorgfältig gezeichnete Kreidebuchstaben. Um die Vitrine herum stand da: Eine Blume ist eine Blume ist eine Blume.
Dies eine Variante des berühmten Satzes von Getrude Stein: Rose is a rose is a rose is a rose.
Der Kreideblumensatz, der in einer unendlichen Schleife um die Vitrine herumgeschrieben war, hat mich so fasziniert, dass ich nicht mal geprüft habe, was in der Vitrine selbst drin ist. Vielleicht gab es irgendeinen Bezug? Es war mir egal. Denn es kommt nicht oft vor, weiterlesen
06. März 2011
AUS DEM WILDEN HOLD UND MILD
Beim Durchblättern eines alten SPIEGEL-Artikels zum Thema „Muße“ ist mir ein Goethe-Zitat ins Auge gesprungen, das einige Tage später noch einmal seinen Platz während eines Coaching-Termins mit zwei Klient*innen gefunden hat, als wir über das Verhältnis und mögliche Zusammenspiel zwischen einerseits„überbordenden Ideen und Möglichkeiten“ einen Text zu bearbeiten und andererseits „konzentrierter Fokussierung auf den nächsten Schritt“ gesprochen haben.
„Erst Empfindung, dann Gedanken /
erst ins Weite, dann zu Schranken.“
Diese Zeilen stammen aus einem Gedicht, das in Goethes Inschriften, Denk- und Sendeblättern seiner Gedichtsammlung von 1827 enthalten ist. Und hier kann man auch nachlesen, dass noch folgende Verse folgen:
Dienstag Nacht lese ich mich durch twitter-Nachrichten zu Libyen. Der Mann auf einem Foto neben einer Nachricht kommt mir bekannt vor. Richtig: es ist Paulo Coelho, der um 8:02 pm getwittert hat: „Dictators: dyed hair is bad for your business #Gadafi #Mubarak #BenAli“
Ich gestehe, dass ich kein Paulo Coelho Fan bin, er aber offensichtlich ein leidenschaftlicher Twitterer. Jeden Tag findet man Nachrichten dieses Autors und kurz bevor ich diesen Stoffbahneintrag schreibe sehe ich natürlich nochmal nach, was es Neues gibt. „Loneliness, when accepted, is a gift that will lead us to find a purpose in life“ twitterte er gestern um 16:55. Und es kommt mir fast so vor, weiterlesen
19. Februar 2011
SIND DAS GEDICHTE? NEIN, DAS IST DAS LEBEN.
Gestern auf der Berlinale habe ich den faszinierenden Film „Made in Poland“ (Regie: Przemyslaw Wojcieszek) gesehen. Bogus, der jugendliche Held des Films fühlt eine unbändige Wut, die er selbst nicht definieren kann, aber er weiß, dass nur die “Revolution” ihm helfen wird. Als Symbol für seine Haltung hat er sich “Fuck You” auf die Stirn tätowieren lassen. Auf seiner Suche nach Mitstreitern trifft er auf seinen ehemaligen Lehrer, der zwar nicht an Revolution interessiert ist, dafür aber Lyrik liebt und rezitiert. Als Bogus ihn fragt „Sind das Gedichte?“ antwortet er „Nein, das ist das Leben…“
Als ich im Anschluss an den Film im Café gegenüber ein „Pistacchi di Bronte“ (Schokolade mit Pistazien) in der Auslage sehe, weiterlesen
13. Februar 2011
NACH IDEENFISCHEN ANGELN
Gestern auf 3Sat die Dokumentation „Das war Thomas Bernhard“, ein Porträt von 1994, anlässlich seines Todestages sowie seines 80sten Geburtstags. Es fasziniert mich immer wieder, diesen Mann in seiner Ambivalenz zwischen Nüchternheit und Emotionalität, zwischen Abwesenheit und Präsenz zu erleben. Und wie immer bekommt man diese geschliffenen Sätze geschenkt, die Bernhard auch in Interviews von sich gab. Diesen hier habe ich notiert: „Schreiben ist ein bisserl wie Fischen. Man wirft die Angel hinein und sitzt halt… Da gehört Anstrengung dazu, nicht?“
Ein schöner Vergleich. Denn wie beim Angeln weiß man auch beim Schreiben nicht, ob ein Ideenfisch oder eine neue Fischfigur anbeißen wird. Und wenn – ob es ein großer ist oder ein kleiner. weiterlesen
4. Februar 2011
EU-PHORISCHE LEKTÜRE
In der letzten druckfrisch-Sendung mit Denis Scheck interviewt er unter anderem Aris Fioretos, dessen Roman Der letzte Grieche gerade bei Hanser erschienen ist. Scheck ist vom Buch unter anderem deshalb begeistert, weil es „die erogenen Zonen des Lesers antastet.“ Der Aspekt der Körperlichkeit beim Lesen eines Buches ist ein hochspannender! Haben Sie mal darauf geachtet, was sich in Ihrem Körper verändert, wenn Sie mit Freude und Lust (sozusagen) einen Roman lesen? Auch Fioretos greift die hingeworfenen Themenangel gern auf und spricht von körperlichen Reaktionen, von sinnlicher Erfahrung, von der Körpertemperatur, die sich verändere, vom Herzschlag etc. „Gute Literatur hat die Fähigkeit, körperliche Reaktionen hervorzurufen,“ sagt er.
Ich will ergänzen: Natürlich hat auch schlechte Literatur diese Fähigkeit. weiterlesen
28. Januar 2011
IST LESEN SEXY?
Vorgestern Abend hat in meinem Mail-Account die originelle und humorvolle Nachricht einer Klientin bereits auf mich gewartet, als ich von meinem Buchclub und dem anschließenden Stil-Workshop nach Hause gekommen bin.
In meinem Kopf waren noch Überlegungen zur Virginia Woolf’schen Ausprägung des stream of consciousness. Dazu passend hatte sich im Workshop das variantenreiche Thema „Monolog“ in den Vordergrund gespült.
Die Mail machte mich auf meinen fehlenden Stoffbahn-Eintrag der letzten Woche aufmerksam. „Da sitzt man im Büro, das Wetter ist gruselig kalt und man will mal in einer ruhigen Pause mit einer Tasse Kaffee den neusten Blog von Dir lesen. Aber nix da!“ lese ich und überlege (in einem inneren Monolog) sofort, weiterlesen
14. Januar 2011
DER GUTE VORSATZ, SICH DER ENTSCHLÜSSE ZU ENTHALTEN
In der nächsten Woche startet mein neuer Buchclub an der Freien Universität. Im Mittelpunkt steht dieses Mal Virginia Woolf. Und wieder geht es mir so, dass ich fasziniert eintauche in ihre Welt, ihre Denkweise, Überzeugungen und auch ihre Zweifel und Ängste. Welch Glück, dass sie uns über ihre Romane, Essays und Tagebücher an ihren Gedanken teilhaben lässt.
In der Vorbereitung für den Buchclub bin ich auf eine Unmenge interessanter Zitaten gestoßen, die ich am liebsten alle hier notieren und mit Ihnen teilen würde… aber ich will nicht übertreiben und wähle also EIN Zitat aus, das zum Jahresbeginn und den Vorsätzen passt, die man sich manchmal macht.
Wie fast jedes Jahr legte Woolf auch für das Jahr 1931 Ihre Ziele fest. weiterlesen
2010
19. Dezember 2010
IST DER HSV EIN LESEZIRKEL?
„Ist der HSV ein Literaturzirkel?“ Diese Frage stellt der Kommentator der ZDF Sportreportage am 12. Dezember. Hintergrund: HSV-Torwart Frank Rost, der dafür kritisiert wurde, dass er Mannschafts-Interna nach außen getragen hat, hat in einem Interview kryptisch formuliert „Ich komme mir vor wie beim Zauberlehrling.“ Eine Auflösung des Satzes wurde von keiner Seite aus geleistet. Meint er den Vers „Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los“? Und wer sind diese Geister? Das Bild von Rost als Zauberlehrling jedenfalls wurde ICH nicht los.
Als dann in derselben Sendung in einem Porträt des portugiesischen Ausnahmetrainers José Mourinho dessen Spitzname verraten wird – Tom Sawyer (weil er an der Seitenlinie immer hin und herhüpft wie Tom) – weiterlesen
11. Dezember 2010
LIEBLINGSFLOPS
Heute muss ich eine Ausnahme machen, und ein P.S. zu meinem gestrigen Eintrag schreiben. Grund: nachdem ich den Eintrag online gestellt hatte, habe ich mir die Wiederholung der aspekte-Sendung angesehen. Hans Magnus Enzensberger erzählte gerade von der Bedeutung des Scheiterns anlässlich seines neuen Buches ’Meine Lieblingsflops’.
„Der Flop ist ein wunderbares Hilfsmittel, eine Therapie geradezu, weil der Künstler an sich neigt ja zum Größenwahn, zum Narzissmus, zu Eitelkeit, zu all diesen Berufskrankheiten. Und wenn die Sachen schiefgehen, ist die Sache irgendwie redimensioniert.“
Mich hat das Interview angeregt und amüsiert (wie es mir mit Enzensberger immer geht), und plötzlich dachte ich: Halt! Im eigenen Schreiblabyrinthgarten verloren gegangen zu sein und das Gefühl des Scheiterns zu haben: wie gut! weiterlesen
10. Dezember 2010
EIN BUCH IST WIE EIN GARTEN, DEN MAN MIT SICH HERUMTRAGEN KANN
Auf meinem Schreibtisch steht momentan eine Postkarte, die mir eine Klientin geschickt hat. Darauf ein persisches Sprichwort: „Ein Buch ist wie ein Garten, den man mit sich herumtragen kann.“
Schließen Sie bitte mal kurz die Augen…. An welche Art Garten haben Sie gerade als erstes gedacht? An einen bodenständigen bunten Bauerngarten? Einen wilden Garten im englischen Stil oder einen japanischen Zen-Garten, der zur Kontemplation und nicht zum Betreten angelegt wurde? Und was meinen Sie, was Ihre erste Assoziation über Ihre Vorliebe für Bücher aussagt? Bücher, die Sie lesen wollen. Aber auch: Bücher, die Sie schreiben wollen? Und schreiben Sie vielleicht gerade an dieser Art von Garten? Oder haben Sie sich im Gegenteil in einem labyrinthischen Garten verirrt und finden den Weg nicht mehr heraus? weiterlesen
03. Dezember 2010
DIE STRATEGIE DES UMKREISENS
Morgen ist im Theater Freiburg Premiere von Elfriede Jelineks Theatertext ’Rechnitz (Der Würgeengel)’. Das Besondere: Regisseur Marcus Lobbes bringt das gesamte Textkonvolut von Jelinek auf die Bühne und trifft nicht – wie sonst üblich – eine Auswahl aus den so genannten ’Textflächen’, die ohne Rollenzuweisungen sind und die Jelinek als Angebote fürs Theater ansieht. So wird jede Inszenierung zu einem eigenen Stück und das Thema „Texttreue auf der Bühne“ erhält eine ganz besondere Interpretation.
Lobbes Variation dauert rund viereinhalb Stunden, aber ihm gehe es nicht um Rekorde, sagt er, sondern um die Erfahrung, „was so ein Text, der sich ums Erinnern, Vergessen und Verdrängen dreht, mit uns macht, weiterlesen
26. November 2010
WISSEN VERSUS WEISHEIT
Sie kennen doch sicher diese kleinen Teebeutelsprüche mit östlichen Weisheiten, die an jeder Yogi-Tee Tasse baumeln? Sie sind durchaus ansprechend und auch anspruchsvoller als beispielsweise die Glückskeks-Sprüche, die sich mit Überzeugungen wie „You will triumph over your enemy“ einschmeicheln wollen.
Nun habe ich vorgestern über einen Yogi-Tee Spruch nachgedacht, der lautet „Durch persönliche Erfahrung wird Weisheit zu Wissen“. Ist es nicht genau umgekehrt? Müsste es nicht heißen „… wird Wissen zu Weisheit“?
Beide Behauptungen im übrigen wunderbare Prämissen, auf deren Grundlage Sie einen Roman schreiben könnten. Im Land der Prämissen sind beide Aussagen gleich wahr. Das ist das Schöne daran. Was mich aber interessiert: welche Prämisse würden Sie wählen?
19. November 2010
DIE FRAU MIT DEN FÜNF ELEFANTEN
Letztes Jahr erschien der Dokumentarfilm „Die Frau mit den 5 Elefanten.“ Gemeint ist Swetlana Geier, die berühmte Übersetzerin aus dem Russischen. Die fünf Romane ihres Lieblingsautors Dostojewski, den sie ununterbrochen seit 22 Jahren übersetzte, bezeichnete sie als ihre fünf Elefanten.
Im Film gibt es eine Stelle, in der Geier einen Seidenstoff sorgfältig prüft. Die ZEIT schrieb zu dieser Szene: „Ob es sich um einen Rock oder um einen Roman handelt – es ist der gleiche Vorgang. Wenn Swetlana Geier den Seidenstoff prüft, zeigt sich plötzlich, wie sie die Übersetzbarkeit von Sprache prüft. Wenn sie Zwiebeln schneidet, die Teetasse hält, eine gestickte Tischdecke streichelt, wenn sie, anders gesagt, mit Materiellem umgeht, weiterlesen
12. November 2010
DIE RITTER DES KONJUNKTIV
Gestern erhalte ich eine personalisierte mail von Amazon. Sie schreiben mir: „ Entdecken Sie die Bestseller 2010: Ihre beliebtesten Produkte des Jahres haben wir bis zu 50{3cec5cb14d33f24c5ed997361f0d9208a53283ce09c775308f9e0ffe92c41630} reduziert.“ Natürlich bin ich interessiert, was Amazon als meine beliebtesten Produkte ansieht. Und natürlich wird mir schnell klar, dass nicht ich gemeint bin, sondern alle Kund*innen insgesamt. Und natürlich ahne ich, was mich erwartet, wenn ich die empfohlenen Romane anklicke. Aber eine Überraschung gibt es dann doch. Denn im verborgenen Garten, in welchem Hummeldumm für jede Lösung ein Problem hat (was gut gegen Nordwind ist, die Tore der Welt öffnet und somit mieses Karma hereinlässt) – in diesem verborgenen Garten also, zwischen einer Bücherdiebin und der Mütter-Mafia, weiterlesen
05. November 2010
DER MEDIA-MARKT AUF DEN SPUREN VON DIETHER KREBS
Sicher kennen Sie den wunderbaren Sketch von Diether Krebs und Iris Berben, in welchem sie ein Ehepaar spielen und die Frau zu ihrem Mann sagt: „Als ich aus dem Fenster sah, graute der Morgen.“ Und ihr Mann antwortet „DEM Morgen!“
An diesen Sketch muss ich momentan immer denken, wenn ich die grelle MediaMarkt-Plakatwerbung an Bushaltestellen sehe, in der Mario Barth sagt: „Männer gehen nicht auf den Markt, sondern IN den Markt.“
Ich finde die Parallelen verblüffend: der artikelbezogene Sprachwitz. Die indirekt mitschwingende Mann/Frau-Thematik. Ein Komiker/ein Comedian. Aber wenn Sie denken, der Krebs hätte sich sicher nie mit einem Baumarkt eingelassen, dann sehen Sie sich mal das an. weiterlesen
31. Oktober 2010
„DER BEGRIFF NERVT EHER.“
Eine Klientin hat mir ein Büchlein mit dem Titel ‚Mysterium Kreativität’ geschenkt, in welchem 13 verschiedene Künstler*innen jeweils Antworten auf dieselben Fragen zu diesem umfassenden Begriff geben. Dass der Begriff Kreativität auf sehr ambivalente Assoziationen stößt, erlebe ich natürlich seit vielen Jahren. Und immer empfinde ich auch ein Unbehagen, mich als Dozentin für so genanntes Kreatives Schreiben zu bezeichnen, denn diese deutsche Übersetzung wirkt schnell harmlos, hölzern, altbacken und begrenzt – unter anderem auch im Vergleich zum originalen Creative Writing.
Hier drei Antworten auf die Frage „Wie definieren Sie Kreativität?“:
„Sich auf Entwicklungsprozesse einlassen können und auf Verwandlung und Paradoxien. Im Scheitern liegt das Entwicklungspotential für das Neue.
In diesem Semester werde ich an der FU einen Buchclub zu Virginia Woolf anbieten. Eine Teilnehmerin an früheren Buchclubs, der ich gerade in anderem Zusammenhang wiederbegegnet bin, hat mir vor einigen Tagen erzählt, dass sie geträumt habe, sie würde Folgendes zu mir sagen: „Mrs. Dalloway ist ein wundervoller Roman.“
Mrs. Dalloway wird tatsächlich Thema im Buchclub sein und dieser schöne Traum wird mich sicherlich direkt in einen stream of consciousness hineinkatapultieren. Und ich überlege, ob Träume ein stream of consciousness in Vollendung sind, oder im Gegenteil eher ein stream of unconsciousness? Was meinen Sie?
17. Oktober 2010
FISH-STEW À LA IAN MC EWAN
Am Samstag vor einer Woche hat eine Freundin auf meine Frage, welches Buch ihr in letzter Zeit besonders gut gefallen hat, geantwortet: Saturday von Ian McEwan. (Diesen Roman habe ich noch nicht gelesen, aber der Autor ist mir nicht zuletzt deshalb vertraut, weil ich in meiner Buchhändlerinprüfung vor nunmehr fast 25 Jahren über seinen Roman „Der Zementgarten“ geschrieben habe.) Am gestrigen Samstag laufe ich in der Oldenburger Bahnhofsbuchhandlung instinktiv auf einen der schönen alten Drehständer zu, in denen Taschenbücher nach Verlagen geordnet sind. Die Diogenes-Drehständer gefallen mir immer besonders gut, weil sie aufgrund Ihrer einheitlichen Cover ganz in Weiß getaucht sind: Die einzige kleine Oase, in der sich das Auge an solch einem Ort ausruhen kann. weiterlesen
9. Oktober 2010
WEGGEFLOGEN. FREI.
Es prallte gerade ein kleiner Vogel gegen die Fensterscheibe meines Arbeitszimmers, als ich las, dass der diesjährige Literaturnobelpreis an Mario Vargas Llosa geht. Ein Schriftsteller, der auch politisch sehr stark engagiert ist und dessen Werk zentral mit dem Thema Freiheit verbunden ist. Die Verbindung von Literaturpreisen und politischem Engagement wurde gerade vom Autor Jonathan Franzen stark kritisiert. Nach neun Jahren, angefüllt mit vielen Schreibblockaden und Depressionen, hat er seinen neuen Roman veröffentlicht. Titel: Freiheit. Auf die Frage, was ihm geholfen habe gegen seine Schreibwiderstände, antwortet er immer wieder „Die Vögel“. Franzen liebt es, intensiv Vögel zu beobachten, auch wenn es ihm peinlich sei, denn es höre sich so an, als hätte ein Schriftsteller sich überlegt, weiterlesen
1. Oktober 2010
40: DIE INOFFIZIELLE ALTERSGRENZE
Wer sich mit einem Exposé an eine Agentur wendet, steht u.a. vor der Herausforderung, etwas über sich selbst preis zu geben, beispielsweise das Alter. Auch einige meiner (weiblichen) Klient*innen zögern, ihr – nicht mehr jugendliches – Alter zu nennen, weil sie sich davon Nachteile erwarten. Ernst zu nehmende Themen: Die Rolle, die für eine Agentur das Alter einer noch unbekannten Autorin spielt, die ihren ersten Roman veröffentlichen will sowie das Zusammenspiel von Alter, Vita, Genre, Zeitgeist, Werbestrategie etc.
Gerade hat sich auch Harald Martenstein in der ZEIT dieser Aspekte angenommen. Und wenngleich er das auf gewohnt locker-ironische Weise macht, so wird der Ernst der Lage doch deutlich, wenn er schreibt, weiterlesen
24. September 2010
WARUM ES GUT IST, SICH NICHT ALLZU SEHR BEEINDRUCKEN ZU LASSEN
Gestern wurde Christa Wolf für ihren Roman ‚Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud‘ mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet. Ihr Buch hat bei Erscheinen viel negative Kritik geerntet. Wolf sei zu weit übers Ziel hinaus geschossen mit ihrer Art der literarischen Collage, die nun vollends um sich selbst kreise. Dies hätte kaum eine künstlerische Qualität, wäre schwer lesbar und mache keinen Sinn.
Nun erhält sie einen weiteren Preis dafür. Begründung: Wolf entwerfe „ein faszinierendes Netzwerk, in dem die Ich-Erzählerin alltägliche Begebenheiten, Assoziationen, Erlebnisse, Gefühle und Erinnerungen verwebt.“
Ist das nicht ein wunderbares Beispiel dafür, wie unterschiedlich man denselben Aspekt wahrnehmen, interpretieren und beschreiben kann? Lassen Sie sich also bezüglich Kritik zu Ihren Texten nicht allzu sehr beeindrucken: zu jeder möglichen positiven gibt es auch das Gegenstück einer möglichen negativen, weiterlesen
18. September 2010
EIN BUCH SCHREIBEN, UM EINE NEUE WELT ZU ERKUNDEN
Cornelia Funke, die „erfolgreichste Autorin Deutschlands“ (Kriterium des Erfolgs? Auflagenhöhe!), die seit fünf Jahren in Los Angeles (übrigens im ehemaligen Haus von Faye Dunaway) wohnt, hat in dieser Woche weltweit zeitgleich den ersten Band ihrer neuen Romanreihe „Reckless“ auf den Markt gebracht. Interessant dabei ist, dass sie zum ersten Mal ein Buch gemeinsam mit jemand anderem entwickelt hat, nämlich dem Filmproduzenten Lionel Wigram. So kann man sich vorstellen, dass bei der Entwicklung auch Überlegungen zur Verfilmbarkeit eine Rolle gespielt haben. Beide waren eigentlich an einer E.T.A. Hoffmann-Idee dran. Dabei haben sie „eine ganz eigene Welt entwickelt und ich hatte Lust, sie in einem Buch zu erkunden.“ Ist das nicht eine schöne Formulierung? weiterlesen
10. September 2010
DAS LEICHTE IST RICHTIG
In einem meiner Zitatenkalender schlage ich heute folgendes Zitat von Tschuang-Tse auf:
Das Leichte ich richtig.
Beginne richtig, und es ist leicht.
Fahre leicht fort, und es ist richtig.
Der richtige Weg, das Leichte zu finden, ist,
den richtigen Weg zu vergessen
und zu vergessen, dass er leicht ist.
Dieses Zitat lässt sich natürlich auch wunderbar auf das eigene Schreiben beziehen. Was halten Sie davon? Und wie könnte man konkret profitieren, wenn man beispielsweise an einem writer’s block, einer Schreibblockade, leidet? Geht es dann umgekehrt vielleicht darum, zu vergessen, dass es SCHWER ist? Freue mich auf Ihre Meinung und Erfahrung.
03. September 2010
LITERARISCHE STILLE IST NEGATIV
Im Tagesspiegel habe ich einen Artikel über Hörbücher gelesen, in welchem es unter anderem auch um das Thema „Stille, Geräusche, Sounds“ geht. Interessiert hat mich vor allem ein Hinweis auf eine Untersuchung von Murray Schafer, wonach in 80 Prozent aller Fälle, in denen Worte wie ’Stille’ und ’Schweigen’ in der modernen Literatur auftauchten, ein negativer Kontext existierte, während die gleichen Worte zu Goethes Zeiten positiv konnotiert waren. Ich habe etwas recherchiert: Die Untersuchung von Schafer ist schon älter. Also frage ich Sie: was ist Ihr Eindruck? Stimmt diese negative Konnotation in der aktuellen Literatur immer noch? Und was ist mit den ganzen Bestsellern, in denen sich alles um die Sehnsucht nach und die positiven Erfahrungen von Einkehr, weiterlesen
20. August 2010
WAS AM SCHLUSS DABEI HERAUSSPRINGT
Seit dieser Woche bin ich wieder zurück in der Literaturschneiderei. Meine Arbeit fühlt sich vertraut an und ich freue mich auf das Wiederaufnehmen meiner Arbeitskontakte. Sie wissen vielleicht, dass mich das Thema ’Fragen’ sehr beschäftigt: als Coach, als Trainerin, als Schreibende. Und zu meiner Fragensammlung gesellte sich das dieswöchige ZEIT Magazin dazu, in welchem Moritz von Uslar 99 Fragen an Hans Magnus Enzensberger stellt.
Frage 45 gefällt mir besonders: „Was ist ein Essay?“ Enzensbergers Antwort: „Das weiß niemand so genau. Ich verstehe darunter einen diskursiven Text, bei dem ich am Anfang noch nicht weiß, was am Schluss dabei herausspringt. Es kommt, wie der Name schon sagt, auf den Versuch an.“
So wünsche ich Ihnen für Ihr Schreiben – weiterlesen